Damals in Chicago
Am 15. März 1939 trafen sich Edvard Beneš und Thomas Mann – weitab der Heimat und nur Stunden nach dem Einmarsch deutscher Truppen in die „Rest-Tschechei“
27. 9. 2019 - Text: Zuzana Lizcová, Übersetzung: Ilka Giertz, Titelbild: Sawyer Bengtson (Chicago Board of Trade Building, erbaut 1930)
Der „garstige Mittwoch“ des Jahres 1939 hat seinen Namen zweifelsohne verdient. An jenem frostigen Morgen des 15. März, einem Aschermittwoch (im Tschechischen auch als „škaredá středa“ – „garstiger Mittwoch“ bezeichnet), mit dem die vorösterliche Fastenzeit beginnt, ging feuchter Schnee auf Böhmen und Mähren nieder, während Militärfahrzeuge durch die Straßen fuhren. Die Armee Nazideutschlands besetzte den westlichen Teil der Tschecho-Slowakei, in deren Ostteil eine faschistische Slowakische Republik entstand. In dem neu okkupierten Land machten sich Wut, Verzweiflung und Trauer breit. Diese befiel zeitweilig auch einen zierlichen Mann, der sich siebentausend Kilometer entfernt in einem Luxushotel erholte. „Dr. Beneš lag zu dieser Zeit in Chicago auf der Couch. Die Rollos waren heruntergelassen und niemand sprach. Es sah aus, als sei jemand gestorben“, notierte sich sein amerikanischer Sekretär.
Für Edvard Beneš, der ein paar Monate zuvor von seinem Amt als tschechoslowakischer Präsident zurückgetreten war, bedeutete der bewegte 15. März jedoch nicht das Ende. Im Gegenteil – er wurde für ihn zu einem Neuanfang. Ab diesem Zeitpunkt begann er, an der Erneuerung der Tschechoslowakei zu arbeiten. Weniger bekannt ist jedoch, in wessen Gesellschaft er einen Teil jenes Mittwochs, an dem sich Hitler Prag unter den Nagel riss, verbrachte.
An dem Tag, an dem das restliche tschechoslowakische Staatsgebiet von den Deutschen okkupiert wurde, traf sich Beneš nämlich mit einem Deutschen: dem berühmten Schriftsteller Thomas Mann, der genau wie er der Nazis wegen seine Heimat verlassen hatte.
Hitler muss gestürzt werden
Im Frühjahr 1939 war Edvard Beneš eine bekannte, aber gänzlich private Person. Knapp ein halbes Jahr zuvor hatte er ein großes persönliches und politisches Trauma erlebt. Im Namen der Erhaltung des Friedens hatte er sich von Adolf Hitler, Großbritannien und Frankreich die Abtretung der Sudetengebiete an das Deutsche Reich aufzwingen lassen. Nach dem Münchner Abkommen von Ende September 1938 war er, wie bereits erwähnt, von seinem Amt als tschechoslowakisches Staatsoberhaupt zurückgetreten – nur drei Jahre, nachdem er seinen Lehrer Tomáš Garrigue Masaryk in dieser Funktion abgelöst hatte.
Ende Oktober 1938 zog sich Beneš auf Drängen nahestehender Personen in aller Stille nach London zurück. Dies war sein zweites Auslandsexil (das erste fiel in die Zeit des Ersten Weltkriegs, vor Gründung der Tschechoslowakei). Aus England führte seine Reise weiter über den Atlantik. Am 8. Februar 1939 kam er nach sechstägiger Fahrt auf dem Schiff SS Washington in New York an.
Dieselbe Stadt hatte einige Monate zuvor auf dem Liniendampfer Nieuw Amsterdam auch jener berühmte Mann erreicht, mit dem Beneš in Chicago an diesem schicksalhaften 15. März einen Großteil des Vormittags verbringen sollte. Wie Beneš war auch er ein glühender Verteidiger der kleinen tschechoslowakischen Demokratie im Herzen Europas.
„Es wäre ein unseliges, zur Abdankung und Versklavung reifes Europa, das einen Staate im Stich ließe und preisgäbe, der zwar um des Friedens willen zu äußersten Zugeständnissen bereit ist, aber sich mit ergreifender Entschlossenheit dem Vernichtungswillen entgegenstellt und einen Freiheitskampf auf sich nimmt, dessen Bedeutung über sein eigenes Schicksal weit hinausgeht“, hatte Mann 1938, vor dem Münchner Abkommen, in Verbindung mit dem bevorstehenden 20-jährigen Gründungsjubiläum der Tschechoslowakei geschrieben.
Auf die Beherrschung von Wort und Schrift verstand er sich wirklich: Thomas Mann gehörte zu den besten Schriftstellern seiner Generation. 1929 hatte er den Nobelpreis für Literatur gewonnen und seine Romane „Buddenbrooks“ und „Der Zauberberg“ wurden in zahlreichen Ländern gelesen.
Noch nach seiner Ankunft in Amerika versuchte Thomas Mann alles Erdenkliche für Prag zu tun. Zwei Tage, nachdem sein Schiff am 24. September 1938 die Küste New Yorks erreicht hatte, sprach der Schriftsteller vor versammelter Menge im berühmten Madison Square Garden. In der Arena, in der sonst große Box-Wettkämpfe und Konzertaufführungen stattfanden, war ein riesiges Meeting zur Unterstützung der bedrohten Tschechoslowakischen Republik einberufen worden. Im Saal drängten sich, Manns Tagebuch zufolge, an die 18.000 Menschen. Weitere 10.000 mussten draußen bleiben. „Tschechische Landmädchen, Hymne, Reden. […] Ungeheure Kundgebung bei meinem Auftreten“, notierte er.
Die kurze emotionale Rede hatten ihm Freunde zuvor ins Englische übersetzt. Die Sprache seiner neuen Heimat beherrschte der deutsche Schriftsteller zu diesem Zeitpunkt noch nicht perfekt. Ihre Botschaft war jedoch klar: Zugeständnisse an den nazistischen Diktator Adolf Hitler sind unzulässig, eine solche Lösung bringe „die Anarchie, die Ungerechtigkeit und die Macht brutaler Kraft“ mit sich und unterjoche Europa „dem Willen eines atavistischen und verbrecherischen Fanatikers“. „Hitler muss gestürzt werden! Das und nur das wird den Frieden erhalten!“, wetterte Mann. Bewegt und in guter Stimmung verließ er in den Abendstunden den Madison Square Garden.
Ganze fünf Tage später, nach Unterzeichnung des Münchner Abkommens, waren alle Hoffnungen dahin. Als „angewidert, beschämt und deprimiert“, beschreibt Mann im Tagebuch seine Gefühle. Das Münchner Abkommen bezeichnet er als eines der „schmutzigsten Stücke, die je gespielt worden sind“.
Die Verstümmelung des kleinen Landes im Herzen Europas betraf Thomas Mann auch persönlich. Er empfand große Sympathie für die tschechische Kultur, zu seinen Favoriten zählten Komponisten wie Bedřich Smetana oder Antonín Dvořák. Auch seine tschechischen Schriftstellerkollegen schätzte er – so unter anderem Jaroslav Hašek oder Karel Čapek.
Vor allem aber hatte ihm die Tschechoslowakei 1936 ihre Staatsbürgerschaft verliehen, ähnlich großzügig war sie auch mit anderen Mitgliedern seiner weitverzweigten Familie verfahren. In unsteten Zeiten, in denen an eine Rückkehr nach Hitlerdeutschland nicht zu denken und Manns internationale Stellung mehr als ungewiss war, bedeutete dies eine unschätzbare Hilfe.
Diese wusste der Schriftsteller auch in hohem Maße zu schätzen. Seine Abreise in die USA im Herbst 1938 erfolgte daher keineswegs leichtherzig. Die Nazi-Presse schrieb, Manns Abreise zeige, dass er an eine Zukunft der Tschechoslowakei nicht mehr glaube. Seine Tagebuchaufzeichnungen wie auch seine Korrespondenz aus jener Zeit sind jedoch voll von Befürchtungen, die tschechischen Freunde könnten nun denken, er lasse sie in der schwersten Stunde im Stich. Gleich nach seiner Ankunft in New York setzte sich Mann daher an den Schreibtisch und versicherte Präsident Beneš schriftlich, dass er seinem Land in tiefer Dankbarkeit verbunden bleibe. Und nach dem Münchner Abkommen sprach er ihm umgehend sein Mitgefühl aus.
„In diesem tragischen Moment möchten ich und meine Familie Ihnen, dem ehrbaren Opfer fremder Schwäche und Untreue, herzlich unsere Hochachtung bezeugen. In dieser schrecklichen Woche haben wir mit Ihnen gelitten und Sie und Ihr Volk mehr und mehr bewundert“, schrieb Mann an Beneš und lud ihn zu einer Reise in die USA ein. „Kommen Sie in dieses Land, das noch Großzügigkeit kennt und wo man Sie feiern und ehren wird“, beschwor er ihn eindringlich in einem Telegramm, das im Privatarchiv des Präsidenten erhalten geblieben ist. [Der Text des Telegramms ist eine Rückübersetzung aus dem Tschechischen. Der originale Wortlaut liegt der Autorin nicht vor, Anm. d. Red.]
Thomas Mann sollte recht behalten: Hatte der alte Kontinent Beneš gedemütigt, so wurde ihm in den Vereinigten Staaten ein ausgesprochen warmer Empfang zuteil. Im Februar 1939 betrat er erstmals in seinem Leben amerikanischen Boden und wurde gleich nach Einlaufen des Schiffs von einer Journalistenmenge begrüßt. Der New Yorker Bürgermeister Fiorello La Guardia hieß ihn herzlich im Rathaus willkommen und der Präsident der Carnegie-Stiftung für internationalen Frieden, der Nobelpreisträger Nicholas Murray Butler, veranstaltete Beneš zu Ehren einen großen Empfang. Auch einflussreiche Diplomaten und Experten für Außenpolitik zeigten lebhaftes Interesse an dem ehemaligen Präsidenten.
Nach ein paar hektischen Tagen fuhr Beneš mit dem Zug nach Chicago, wohin man ihn eingeladen hatte, um an der dortigen Universität Vorlesungen zu halten. „Es klingt wie eine Ironie des Schicksals, aber das hatte er dem Münchner Abkommen zu verdanken“, erklärt der Historiker Milan Hauner. „Beneš wurde zum wertvollsten authentischen Zeugen der kleinen bedrängten Nation.“ Auch am Ufer des Lake Michigan wurden ihm gleich zu Beginn überraschende Ehren zuteil. „Bei der Ankunft in Chicago wurde Beneš als ,Europe’s most distinguished citizen‘ (Europas bedeutendster Bürger) angesprochen“, fügt Hauner hinzu. Und obgleich der aus dem westböhmischen Kožlany stammende Beneš kein blendender Redner war, gewann er schnell die Sympathie seiner Studenten.
Benešs engem Freund und Biografen Edward Hitchcock zufolge waren die Vorlesungen des Ex-Präsidenten außerordentlich populär und gut besucht. „Offen und ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen“ wurde über Demokratie und über aktuelle wie zeitlose politische Themen diskutiert. Im Juli wählten die Studenten Beneš sogar zum erfolgreichsten Professor des Jahres. Hitchcock zufolge freute ihn diese Ehre sehr – zur Universität Chicago hatte Beneš allein schon deshalb eine persönliche Beziehung, weil hier einst „Väterchen“ Masaryk gelehrt hatte.
Ein furchtbarer Schlag
Der 15. März 1939 machte definitiv alle Hoffnungen westlicher Politiker, der britischen und französischen „Appeaser“, zunichte, dass Hitler um den Preis von Zugeständnissen seine aggressive Politik aufgeben würde. Die Okkupation und Teilung des restlichen tschechoslowakischen Staatsgebiets war ein Beweis dafür, dass der deutsche Führer vor nichts zurückschreckte und Europa höchstwahrscheinlich auf einen neuen Krieg zusteuerte. Darin waren sich die Vertreter der führenden Weltmächte einig – und auch die zwei Mitteleuropäer Beneš und Mann, die sich an diesem Tag in den eleganten Räumen des Hotels Windermere in Chicago trafen.
„Tag beschattet von den politischen Nachrichten, neue deutsche Gewaltsamkeiten im Osten betreffend. Ultimatum, Auflösung der Tschecho-Slowakei. […] Niederschlagende Wirkung vorausgesehener Dinge, deren Affekt doch jedesmal schlimmer [ist] als vorausgesehen“, notierte Thomas Mann in seinem Tagebuch. „Es war für mich ein furchtbarer Schlag. Die Deutschen Herren über alles und jeden, das ganze Gebäude der Pläne zerstört, Unsicherheit, was mit der restlichen Welt, was mit den Leuten zuhause ist […]“, schrieb Beneš in seinen Erinnerungen. Dennoch war er imstande, wenige Stunden nach der Okkupation seine Zeit in deutscher Konversation mit einem führenden deutschen Literaten zu verbringen. Im Kopf arbeitete er bereits einen Plan zur Erneuerung der Tschechoslowakei aus – und brauchte einflussreiche Unterstützer. „Resultat des Gesprächs war das Versprechen einer neuen tschechoslowakisch-deutschen Zusammenarbeit“, notierte Benešs Neffe, der Diplomat Bohuš Beneš, nach einem im März erfolgten Besuch des deutschen Schriftstellers.
„Wie 1938“
30 Jahre PZ