„… dann eben eine digitale Premiere“
Seit Monaten reden alle darüber, was wegen Corona nicht mehr geht. Ballettdirektor Michal Sedláček macht in Halle, was noch geht
13. 12. 2020 - Text: Klaus Hanisch, Titelbild: Szene aus „Art*House“ © Theater, Oper und Orchester GmbH Halle / Yan Revazov
PZ: An den Bühnen Halle ist seit Anfang November der Proben- und Spielbetrieb wegen Corona ausgesetzt. Doch seit Ende November bringen Sie Zuschauerinnen und Zuschauern „Art*House“ mit dem Ballett Rossa und der Staatskapelle Halle direkt nach Hause. Dieses Ballettspektakel sollte eigentlich am 13. November in Ihrem Haus Premiere feiern, stattdessen gab es nun eine digitale Premiere. Wie hat das funktioniert?
Michal Sedláček: Wir haben bis zum letzten Augenblick geprobt und beschlossen, zwei Wochen vorher Aufnahmen zu machen für den Fall, dass wir nicht live auftreten können. Wir wollten bei den Zuschauern ankommen, wenn sie schon nicht zu uns kommen können. Diese Aufnahmen wurden zusammengeschnitten und auf diesem Weg als Premiere herausgebracht. Als kleines Törtchen in der Vorweihnachtszeit sozusagen, um unseren Besuchern eine Freude zu machen. Auch, damit sie wissen, dass wir weiterarbeiten und uns vorbereiten. Und als Zeichen dafür, dass wir sie vermissen – und sie uns hoffentlich auch.
Worum geht es in diesem Stück?
„Art*House“ hat keine Handlung. Und keine Dekoration. Wir arbeiten nur mit Licht und den Möglichkeiten der Drehbühne. Dafür wird 90 Minuten lang getanzt. Und die Tänzer sind gemeinsam mit Musikern auf der Bühne. Mit dem Komponisten Ivo Nitschke hatte ich beschlossen, ein Streichquartett, zwei Bläser, eine Bassgitarre, E-Gitarre und einen DJ einzubeziehen. Unser Anliegen ist, Musiker einfach mal auf das gleiche Level wie Tänzer zu heben. Anfangs war geplant, sie noch stärker zu involvieren, sogar mitten zwischen die Tänzer. Aber das war wegen der Abstandsregeln nicht möglich.
Zuschauer konnten „Art*House“ anschließend noch 24 Stunden lang digital abrufen. Ziel ist, dass Sie mit ihnen weiterhin in einem künstlerischen Austausch stehen. Welche Resonanz haben Sie darauf bekommen?
Die Resonanz war fantastisch. Unglaublich viele Leute waren davon begeistert und haben sich bei uns dafür bedankt. Das freut mich sehr. Genau 1.770 Leute haben sich das in den 24 Stunden angeguckt – und ich glaube, das ist gut. Deshalb werden wir dieses Stück für alle Hallenser und überhaupt alle Menschen, die dies mögen, noch einmal am 31. Dezember freischalten.
Schon im März war bei den Bühnen Halle der Proben- und Spielbetrieb wegen Corona ausgesetzt, seit Mitte April 2020 konnten Zuschauer wöchentlich eine Inszenierung im Videostream erleben, begleitet von anderen digitalen Formaten wie Video-Stückeinführungen oder Gesprächsrunden via Videokonferenz mit Künstlern. Bringt das nur Kontakt zu Zuschauern oder auch Geld?
Ob es den Bühnen auch Geld einbringt, kann ich Ihnen nicht sagen. „Art*House“ war jedenfalls kostenlos abrufbar. Ich denke, wir haben auch eine Verpflichtung gegenüber unserem Publikum, Kunst zu schaffen, solange wir dazu die Möglichkeiten haben. Wir müssen ihnen etwas anbieten, damit sie uns weiterhin in Erinnerung behalten und den Spaß an unserer Kunst nicht verlieren. Jetzt ist eine Zeit mit der klaren Regel, dass wir nicht spielen und Besucher in unser Haus einladen können. Deshalb ist das die einzige Möglichkeit, um unsere Kunst unter die Menschen zu bringen. Und für mich ist es eine gute Möglichkeit.
Das „digitale Opernhaus“ Halle erläutert auf seiner Website, dass Digitalität nun eine zentrale Rolle spielt. Auch durch den Einsatz multiperspektivischer Ebenen zwischen Bühne und Video oder durch die Nutzung von Virtual Reality. Was bedeutet das für Sie als Regisseur und Künstler, müssen Sie sich ganz neue Formen der Inszenierung und Darstellung einfallen lassen?
Meine Choreografie für „Art*House“ stand unter den Regeln der Pandemie. Also mit angemessenem Abstand zwischen Tänzern und Musikern, die eingehalten werden müssen. Allerdings war sie ursprünglich nicht für die Digitalisierung gedacht und der Abend wurde nicht speziell für die Aufnahmen gestaltet. Vielmehr habe ich die Vorstellung wie eine normale Aufführung konzipiert, die eben dann im Internet aufgeführt wurde.
Die künstlerische Leitung der Oper Halle stellte einen digitalen Spielplan vor. Können Sie sich vorstellen, dass immer mehr oder eines Tages gar alles nur noch im Netz stattfindet und Kunst reine Livestream-Unterhaltung werden könnte?
Nein. Ballett, Oper oder Musical sind Live-Erlebnisse und nicht durch ein Streaming zu ersetzen. Eine Aufführung ist ein einmaliges Erlebnis, denn nicht jede Vorstellung verläuft wie die andere – im Gegensatz zu Aufnahmen im Internet. Das Einzigartige am Theater ist, dass die Kunst in einem bestimmten Moment passiert. Diese Energie und Kraft, die ein Stück und seine Interpreten haben können, lässt sich durch Video oder Leinwand nicht in ein abgeschlossenes Wohnzimmer übertragen. Daher bleibt das Wichtigste, Menschen wieder zu uns ins Theater zu bringen und uns mit ihnen auszutauschen. Die Reaktion durch das Publikum nach einer Vorstellung ist ganz wichtig. Künstler wollen direkt spüren, wie und ob ihre Kunst angekommen ist. Deshalb ist live nicht zu ersetzen. Doch für diese ungewöhnliche Zeit ist das Internet eine gute Lösung.
Wegen Corona konnten am Ballett der Halleschen Bühnen im Frühjahr auch keine Proben angesetzt werden. Doch im Sommer haben Sie wieder trainiert. War das ernsthaftes Training oder eher eine Art Bewegungstherapie.
Ballett-Tänzer haben jeden Tag eineinhalb Stunden lang Training. Das ist keine Probe, sondern dient dazu, sich warm zu machen und für die Proben vorzubereiten. In den letzten drei Wochen vor dem Sommerurlaub stellte uns die Stadt eine Sporthalle mit 1.200 Quadratmetern zur Verfügung. Das war die einzige Möglichkeit, um den Abstand von sechs Metern untereinander einzuhalten. Bis dahin hatte ich mehr als zwei Monate lang das Training per „Zoom“ geleitet, die Tänzer haben zu Hause trainiert. In der Halle konnten sie wieder springen und sich drehen, ohne in ihrer Wohnung gegen irgendeine Einrichtung zu stoßen.
Sie studierten von 1988 bis 1996 in Brünn. Man denkt immer, dass in der zentralistischen Tschechischen Republik alles, was Kunst und Kultur betrifft, ausschließlich in der Hauptstadt stattfinden müsse. Ist das für Ballett anders?
Grund war, dass ich in Brünn geboren wurde. Und als ich studiert habe, gab es drei staatlich anerkannte Ballett-Schulen in der damaligen Tschechoslowakei, jeweils eine in Prag, Brünn und Bratislava.
Seit 2001 sind Sie Erster Solotänzer und seit 2012 stellvertretender Ballettdirektor in Halle. Wieso kamen sie 1999 ausgerechnet nach Halle?
Das war Zufall. Nachdem ich ein Jahr am Nationaltheater in Brünn gearbeitet hatte, ging ich für zwei Jahre ans Staatstheater nach Mainz. Und dann weiter nach Halle, erst für eine Spielzeit, nun schon für 21 Jahre. Hier leite ich die Compagnie jetzt auch kommissarisch.
Was ist der wesentliche Unterschied zwischen der Arbeit in Deutschland und Tschechien in Ihrer Branche?
Als ich damals in Tschechien gearbeitet habe, war es problematisch. Man musste auf jede Rolle immer sehr lange warten. Zwar bekam ich auch Solo-Rollen, aber es war mir zu wenig. Außerdem hat mich interessiert, mit anderen Nationalitäten zu arbeiten. In meiner Heimat gab es lediglich Russen und Slowaken. Ich wollte eine andere Sprache lernen und sehen, wie die Welt des Tanzes woanders aussieht. In Halle hatte und habe ich eine gute Zeit, meine Tochter wurde hier geboren. Somit halte ich mich an einen Leitspruch meines Großvaters: Man soll nicht reparieren, was nicht kaputt ist!
Bei der Choreografie zum Stück „Inferno“ vor zwei Jahren erwähnten Sie das geheime „13. Zimmer“, von dem man in Tschechien oft spreche und das möglichst nie geöffnet werden sollte, weil sich darin Abgründiges, Sehnsüchte und Schuldgefühle versteckt halten. Reiner Aberglaube?
Ich denke, jeder von uns hat solch ein 13. Zimmer – mit etwas Unangenehmem, das man mit sich herumschleppt. Zum Beispiel ein schlimmes Erlebnis, das man gerne für sich und verschlossen hält, mit dem man aber weiterkämpfen muss.
Wird „Inferno“ noch immer aufgeführt?
Nein, „Inferno“ lief zwei Spielzeiten, wie all unsere Stücke. In jeder Spielzeit haben wir fünf verschiedene Stücke im Repertoire. Jedes Jahr gibt es zwei Premieren und abgelaufene Stücke werden ersetzt.
Auf der Facebook-Seite des Balletts wurde kürzlich darauf hingewiesen, dass „Ballettdirektor Michal Sedláček heute für Sie ein Gericht aus seiner Heimat kocht“. Was kochen Sie am liebsten?
Ich koche so ziemlich alles, vor allem sehr viel mit Fleisch in jeder Form, angelehnt an die Küche in Österreich. Das ist im Prinzip mein einziges Hobby. Ich koche praktisch jeden Tag.
Gibt es häufig Gulasch und Svíčková?
Kann man machen, doch das sind für mich eher Touristen-Gerichte. Ich mag einfache Sachen, nicht so kompliziert. Was mir sehr gut schmeckt, sind Kalbsbäckchen. Mein Leibgericht, weil die Konsistenz des Fleisches so großartig ist.
Das klingt nach engem Kontakt zu Tschechien. Haben Sie noch Auftritte dort, vielleicht manchmal sogar Heimweh?
Nein, Heimweh habe ich überhaupt nicht. Obwohl ich nur 500 Kilometer von meiner Heimatstadt entfernt wohne, kriege ich es lediglich einmal im Jahr auf die Reihe, dorthin zu fahren. Und seitdem ich aus Tschechien weg bin, bin ich dort nicht mehr aufgetreten. Dafür hatte ich Rollen in vielen anderen Ländern und Städten, womit ich ausreichend beschäftigt war. Als ich Tschechien verlassen habe, habe ich die Tür ganz schnell geschlossen. Ich war in Tschechien nicht zufrieden. Wenn dort nichts zu reparieren gewesen wäre, wäre ich geblieben …
Reizt es Sie nicht doch, wieder einmal in einer Großstadt zu arbeiten?
Auch dafür gilt ein Satz meines Großvaters: Lieber glücklich in Halle als unglücklich in München!
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