Das erste Gold im Winter
Jiří Raška wäre am 4. Februar 80 Jahre alt geworden. Sein Thüringer Rivale Horst Queck erinnert an spannende Duelle
4. 2. 2021 - Text: Klaus Hanisch, Titelbild: Skiflugschanze Oberstdorf
Jiří Raška? „Er war ein sehr ehrgeiziger Sportler, hart gegen sich selbst, aber auch gutmütig“, sagt Horst Queck heute über den Konkurrenten aus der ČSSR, mit dem er so lange um Siege kämpfte. Vor allem um jene vor genau 50 Jahren.
Im Winter 1970/71 gewann Jiří Raška die Vierschanzen-Tournee – ohne ein einziges Springen für sich entschieden zu haben. Anders als im Jahr zuvor. Bei der Tournee 1969/70 stand er gleich bei zwei Einzelspringen auf dem höchsten Podest, wurde im Gesamtklassement aber nur Vierter. Sieger damals: Horst Queck aus der DDR – ohne ein einziges Springen gewonnen zu haben …
Diese beiden Veranstaltungen schrieben Geschichte. Ihre Gewinner setzten sich mit solch knappem Vorsprung vor der Konkurrenz durch, dass sie auf ewig in der Bestenliste stehen werden. „Wir waren damals noch Skispringer und keine Skiflieger wie heute“, betont Queck im Rückblick, „bei uns zählten vor allem Sprungkraft und Explosivität.“ Mittlerweile seien die Sportler seiner Disziplin sehr von der Technik abhängig: „Bekleidung, breitere Skier und und und.“ Ob sie weit springen oder nicht, hänge zudem entscheidend von den Luftbedingungen ab. „Sie fahren an, schmieren sich in die Fluglage, machen die Beine breit und lassen sich tragen“, beschreibt der Thüringer markante Veränderungen gegenüber seiner aktiven Zeit.
Als Raška, der (anscheinend) ewige Zweite, 1971 endlich die Vierschanzen-Tournee gewann, war er in seiner Heimat jedoch schon längst eine Legende. Denn wichtiger als dieser Sieg war für Tschechen (und Slowaken) seine Goldmedaille drei Jahre zuvor. „Wir warteten bis zum 11. Februar nachmittags auf sie“, steht in tschechischen Annalen, nicht frei von Emotionen. Bis 1968 hatten Athleten aus der ČSSR zwar schon Silber und Bronze bei Olympischen Winterspielen geholt – aber noch kein Gold. Dann passierte es endlich, auf der Normalschanze in Autrans, 35 Kilometer entfernt vom Olympiaort Grenoble. Jiří Raška lag bereits nach dem ersten Durchgang in Führung. Selbst Literaten fühlten sich später dazu aufgerufen, diese 79 Meter in angemessene Worte zu gießen. Für den Schriftsteller Ota Pavel waren sie ein „wunderbarer Sprung in nicht endender Stille, der ein kurzes Menschenleben dauerte“.
Schließlich die Entscheidung, verfolgt von 20.000 Zuschauern. Der Anlauf musste verkürzt werden, weil Springer zuvor den kritischen Punkt der Schanze um mehr als acht Prozent überschritten hatten. Erst mit Startnummer 51 war der Mann aus Frenštát pod Radhoštěm an der Reihe, einer kleinen Stadt in den Mährisch-Schlesischen Beskiden, unweit der slowakischen Grenze.
Unter den Tschechoslowaken fürchtete man, Raška könne allzu sehr belasten, seinen Vorsprung verteidigen zu müssen. „Aber das war wieder der Jiří Raška, wie wir ihn kennen“, schwärmten Kommentatoren aus der ČSSR, „Konzentration, perfekte Haltung und Skier, die nicht einen Zentimeter von der nötigen Position abwichen.“ 72,5 Meter und 101,3 Punkte – Raška behielt Platz eins. Die erste olympische Goldmedaille im Winter für die Tschechoslowakei. Der Sieger auf den Schultern seiner Mannschaftskameraden.
Daneben verblasste die Silbermedaille, die er 1968 zudem auf der Großschanze ersprang. Für seinen Olympiasieg erhielt der Sohn eines Schusters 10.000 Kronen vom Staat und einen Fernseher. Sowie ein Auto, das der Staatsamateur eigentlich nicht annehmen durfte, jedoch trotzdem mit einigen Tricks nutzte. Bei der Nordischen Ski-WM 1970 in der heimischen Hohen Tatra (Štrbské Pleso) wollten ihn 100.000 Zuschauer sehen, dort gewann er Silber auf der Großschanze.
Populär machten Jiří Raška aber nicht allein seine sportlichen Erfolge, zu denen auch ein Weltrekord im Skifliegen mit 164 Metern im Jahr 1969 gehört. Kaum weniger zählte für seine Landsleute seine Unterschrift unter das „Manifest der 2000 Worte“ von Ludvík Vaculík im Sommer nach dem Olympiasieg. Geschadet habe ihm sein öffentliches Bekenntnis zum „Prager Frühling“ selbst nach dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes nicht. „Er war zu erfolgreich“, bemerkte der Wiener „Standard“ in einem Nachruf zu Raškas Tod kurz vor seinem 71. Geburtstag im Januar 2012.
Das politische und gesellschaftliche Reformprojekt in Prag belastete jedoch die Beziehungen unter den Skispringern. „Bis dahin hatten wir ein vernünftiges Verhältnis“, erinnert sich Horst Queck. Aber nach dem „Prager Frühling“ überhäuften die Springer aus der Tschechoslowakei ihre ostdeutschen Rivalen mit Vorwürfen, dass auch die DDR dessen Ende zu verantworten hätte. „Da sprach die gesamte ČSSR-Mannschaft auf einen Schlag kein Wort mehr mit uns.“
Erst im Winter 1969 normalisierte sich das Verhältnis. Hans Renner, damals Trainer der DDR-Skispringer, selbst in der Tschechoslowakei aufgewachsen und später Erfinder der Kunststoffmatten für das heutige Sommerskispringen, ging auf den Trainer der ČSSR-Athleten zu. „Beide kannten sich von früher und bereinigten die Differenzen“, erläutert Queck, „schon einen Tag später war alles wieder in Ordnung.“
Jiří Raška startete seine Karriere als Skifahrer bei Spartak Frenštát pod Radhoštěm, begeisterte sich ab Mitte der 1950er Jahre jedoch immer mehr fürs Skispringen. Als Teenager wurde er in die neu gebildete Nationalmannschaft der tschechoslowakischen Springer berufen. Doch „er hatte es nie leicht“, wie tschechische Annalen vermerken, bekam während seines Militärdienstes Probleme mit Nominierungen für Top-Wettbewerbe, musste sich mit prominenter Fürsprache zu Dukla Liberec versetzen lassen, um in der internationalen Elite mitspringen zu können.
Geradezu grotesk mutet heute die Nominierung für die Olympischen Spiele 1964 in Innsbruck an. Laut tschechischen Quellen wurde Jiří Raška nach Hause geschickt, um seinen Platz nach einer Quotenvergabe für einen anderen Athleten aus seinem Land freizumachen, angeblich für einen Eisschnellläufer. Tatsächlich bekam ihn jedoch ein Funktionär aus der ČSSR, der unbedingt nach Österreich zu Olympia reisen wollte. Deshalb starteten auch nur drei statt vier tschechoslowakische Springer auf dem Bergisel.
In den 1960er Jahren gelang dem Mann aus Mährisch-Schlesien – von dem bis heute viele (und auch Horst Queck) annahmen, dass er aus der Slowakei stammte – bereits ein Sieg bei der Flugwoche 1966 im slowenischen Planica. Doch heimische Beobachter notierten, dass „seine Sprünge oft knapp zu kurz waren oder ihm ein paar Punkte in der Bewertung für den Stil fehlten“, um die ganz großen Titel einzufahren. Deshalb „fertigte er mit Hilfe seiner Frau eine spezielle Weste, füllte sie mit zehn Kilo Sand und rannte damit jeden Tag die Hügel hinauf.“ Rund um sein Haus hätten Nachbarn zudem „jede Nacht das Geräusch von Hanteln hören“ können.
Obwohl bis heute „nur wenige Menschen von seiner großen Sorgfalt beim Training sprechen“ würden, blieben seine verstärkten Anstrengungen nicht ohne Erfolg. Unter Leitung des legendären Trainers Zdeněk Remsa (1928-2019) bildeten die „Remsa Boys“ mit Raška, Zbyněk Hubač, Rudolf Höhnl und Josef Matouš in den 1960er Jahren eine Siegertruppe.
Noch heute schwärmen Experten von ihren Leistungen bei den Vierschanzen-Tourneen. 1969/70 sprang Mitfavorit Raška in Oberstdorf auf Platz eins, doch wie zu Olympia 1964 erwies sich Innsbruck als Unglücksort für ihn. „Er hätte auch diese Tour gewinnen können“, urteilt Rivale Queck, „denn Jiří Raška war ein sehr stabiler Springer, ein ganz sauberer Techniker mit einer sicheren Landung.“
Aber in Innsbruck stürzte der Tscheche. „Es ging dort sehr weit, die Sprünge waren nicht einfach zu stehen“, so Queck, „und zu unserer Zeit hatte ein Sturz für die Wertung viel dramatischere Auswirkungen als heute.“ Genauer gesagt: zehn Punkte pro Kampfrichter. „Damit fehlten Raška auf einen Schlag 30 Punkte.“ Diesen Rückstand konnte er auch mit seinem Erfolg beim Schlussspringen in Bischofshofen nicht mehr wettmachen.
Während der Tscheche erneut den Gesamtsieg abschreiben musste, setzte sich Horst Queck aus Zella-Mehlis durch. Als einziger Springer kam er bei jedem der vier Wettbewerbe dieser Tournee unter die zehn Besten, stellte in Innsbruck gar einen neuen Schanzenrekord auf. Beim letzten Springen in Bischofshofen hatte der DDR-Springer zudem die Startnummer direkt hinter seinem Konkurrenten Bjørn Wirkola aus Norwegen. „Da war klar, wie weit ich springen musste, um zu gewinnen“, sagt Queck, „und das habe ich ziemlich genau gepackt.“
Und endlich hielten einmal seine Nerven, die ihn vor 1969 manchen Sieg gekostet hatten. „Ich kam schwierig zurecht mit großen Aufgaben“, gesteht er heute noch freimütig ein. Am Ende hatte er knappe 2,8 Punkte Vorsprung vor dem dreifachen Tourneesieger und Titelverteidiger. Sein Erfolg überraschte Horst Queck selbst. „Ich hatte nicht vermutet, so weit vorne zu landen, denn ausrechnen konnte man sich so etwas zuvor natürlich nicht“, erklärt er, „doch ich ging unbelastet in die Springen.“
Und wie sauer war Jiří Raška, dass selbst zwei Einzelsiege wieder nicht für Platz eins gereicht hatten? „Als er in Innsbruck stürzte, war jedem und auch ihm klar, dass der Gesamtsieg für ihn weg war“, bilanziert Queck. Um eine alte Weisheit nachzuschieben: „Man hat damals wie heute eben vom Nachteil des Gegners profitiert, der dann zum eigenen Vorteil wurde.“
Nicht nur das fast gleiche Alter – Raška Jahrgang 1941, Queck Jahrgang 1943 – verband die Konkurrenten aus den Nachbarländern. „Wir waren alle leicht und nicht sehr groß, um die 1,70 Meter, Raška noch etwas kleiner“, denkt Horst Queck zurück. Wichtige Voraussetzungen für die Haltungsnoten der Springer. „Heute wird ja gescherzt, dass man die Kampfrichter ganz weglassen könnte.“ Zu seiner Zeit wurde der Stil dagegen hoch bewertet. „Gute parallele Skiführung, leichte Rückenbeugung, Arme angelegt, Sauberkeit der Sprünge, alles wichtige Kriterien. Darauf achteten die Kampfrichter neben der Weite sehr genau für das Ergebnis.“ Zugute kam Queck, dass er zuvor Geräteturner war. „Dadurch war ich mir meiner Körperhaltung sehr bewusst.“
Das galt fraglos auch für Jiří Raška bei der Tournee 1970/71. Der Norweger Ingolf Mork gewann drei Springen, Gesamtsieger wurde aber der Tschechoslowake. Dafür genügten Raška zweite Plätze in Garmisch-Partenkirchen, Innsbruck und Bischofshofen sowie ein fünfter Rang in Oberstdorf. Ausgerechnet in Innsbruck (!) setzte er sich damals an die Spitze der Gesamtwertung.
Horst Queck musste die Titelverteidigung vorzeitig abschreiben. Nach seinem Sieg bei der Vierschanzen-Tournee 1970 hatte er auch die „Tournee der Freundschaft“ mit Springern aus den damaligen Ostblock-Staaten DDR, Polen, ČSSR und Sowjetunion gewonnen, vergleichbar mit der Friedensfahrt im Radsport. Danach verunglückte er schwer, hatte eine Gehirnerschütterung, brach sich Halswirbel an. „Man dachte, dass ich überhaupt nie wieder springen könnte.“ Doch Queck schaffte es erneut in den Nationalkader der DDR, wurde zur Tournee 1970/71 mitgenommen, war dort „aber nicht in der Lage, meine höchste Qualität abzuliefern“.
Dass endlich mal Jiří Raška gewann, war ihm nicht egal. „In Bischofshofen gab es immer ein großes Abschiedsfest mit Siegerehrung, abends in einem Saal, dort saßen wir gemütlich zusammen und haben seinen Erfolg gefeiert“, bekennt der Mann aus Thüringen neidlos.
Horst Queck hatte noch ein großes Ziel: die Olympischen Spiele 1972 in Sapporo. „Das habe ich nach vielen kleineren Verletzungen zuvor nicht mehr gepackt, weil am Ende auch noch mein Oberschenkelmuskel riss und das war praktisch das Aus.“ Jiří Raška war dagegen in Japan dabei, kam aber nicht mehr in die Medaillenränge.
Auch nach ihrer Karriere gingen die beiden Weltklassespringer ähnliche Wege. Der Tschechoslowake coachte in den 1990er die tschechischen Junioren und die heimische Nationalmannschaft, wirkte auch verantwortlich im tschechischen Skiverband mit. Seine Enkel Jan und Jiří Mazoch wurden ebenfalls Skispringer.
Queck trainierte von 1978 bis zur Wende die Springer seines Heimatklubs in Zella-Mehlis, arbeitete dann als Co-Trainer von Bundestrainer Reinhard Heß und ab 1991 als Landestrainer beim Bayerischen Skiverband. Vor ein paar Jahren zog er zurück ins heimische Thüringen und ist regelmäßiger Gast beim Springer-Stammtisch in Zella-Mehlis.
Der dortige Sportclub „Motor“ brachte fünf Sieger der Vierschanzen-Tournee hervor, neben Queck und Rainer Schmidt vor allem den legendären Helmut Recknagel, der die Tournee gleich dreimal gewann und zudem Olympiasieger wurde. Daneben starteten mit Peter Lesser, einst Skiflug-Weltrekordler, und Bernd Eckstein weitere prominente Springer für den Verein.
Dieter Weiß organisiert diesen Stammtisch regelmäßig, auch er kannte Raška und erlebte ihn als „fairen Sportsmann, immer gut gelaunt und für Späße zu haben“. In einer Umfrage des Tschechischen Skiverbandes wurde Jiří Raška später zum „tschechischen Skisportler des Jahrhunderts“ gewählt.
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