Das Geheimnis der Teestuben
In Prag gibt es überraschend viele „Čajovny“, die ein breites Teesortiment anbieten. Viele Besucher schätzen sie als Oasen der Ruhe. Dem Urteil des Experten aber halten sie nicht stand
10. 2. 2016 - Text: Daniela Honigmann
Es ist, als trete man in eine andere Welt. Egal, ob draußen Nieselregen fällt, die Sonne scheint oder tiefster Winter herrscht, die „Květinová čajovna“ („Blumen-Teestube“) verfügt über ein ganz eigenes Klima. So versteckt sie mitten im Prager Zentrum liegt – in einem Innenhof der Myslíkova-Straße, abgeschirmt durch einen hohen Holzzaun –, so weit entfernt fühlt sich der Besucher vom lauten Verkehr ein paar Meter weiter. Gedämpftes Licht, verwinkelte Räume, Sessel und Sitzkissen schaffen eine Gemütlichkeit, wie sie in den schönsten der Prager Teestuben zu finden ist.
Insgesamt mögen es hundert sein, vielleicht auch mehr. Lokale, die sich den Namen „čajovna“ geben und ihn in seiner Bedeutung weitestmöglich auslegen, finden sich überall in der Innenstadt. Hier finden Geschäftstermine statt, Familientreffen, verabreden sich junge Paare, werden Nachhilfestunden gegeben oder kommen Männer wie Frauen allein, um zu lesen, zu schreiben oder nachzudenken. Was sie hier meistens finden, ist neben einem breiten Teesortiment vor allem Ruhe, eine gewisse Zurückgezogenheit und oft auch ein esoterisches Flair.
Milan Dřimal hält das alles für folkloristischen Unsinn. „So wie hier sieht keine Teestube in Asien aus“, sagt er. „Die hiesigen Teestuben sind zwar bezaubernd, haben aber mit Tee nichts zu tun.“ Mit seiner „Čajovna Bílý Jeřáb“ verfolgt er ein wesentlich exklusiveres Konzept, bietet ein kühles, aber elegantes Ambiente und Degustationen auf hohem Niveau. Zu seinen regelmäßigen Besuchern gehören Angehörige der japanischen Botschaft, zudem verkauft er ausgewählte und seltene Sorten traditionsreicher Tee-Dynastien in Japan, Korea und China, deren Kilopreise bis in sechsstellige Kronenbeträge gehen.
Je mehr Kenntnisse sich Dřimal über Tee aneignete, desto weiter hat er sich vom Prager Teestuben-Mainstream entfernt: „Für mich hat das hier nichts mit Teekultur zu tun, und deshalb gehöre ich auch nicht dazu.“ So mancher Betreiber einer Čajovna, kritisiert Dřimal, gaukelt den Leuten vor, er verstehe viel von Tee. „Dabei müssten wir noch viel mehr darüber lernen und auch die Leute besser schulen, damit sie nichts kaufen, was mit Tee eigentlich nichts zu tun hat.“
Sicher, besonders lang und damit fundiert ist die Tradition der Teestuben in Prag noch nicht. Ihre heutige Struktur entstand um die Jahrtausendwende und mit der Inspiration, die esoterisch Interessierte von ihren Reisen nach Indien oder in den Nahen Osten mitgebracht hatten. „Das begann langsam nach der Samtenen Revolution“, erklärt Jaromír Horák, Vorsitzender des Vereins Čajomír, der sich der Förderung der Teekultur in Tschechien verschrieben hat. Die 1993 eröffnete „Dobrá čajovna“ am Wenzelsplatz ist heute eine der ältesten der Stadt. „Anfangs ging es noch sehr orthodox zu“, erinnert sich Horák, „es durften zunächst nicht einmal Frauen dort arbeiten. Inzwischen hat sich das sehr geöffnet und die ,Dobrá čajovna‘ einen weiten Weg zurückgelegt. Sie haben ein Netz an Teestuben im ganzen Land aufgebaut, wie es bisher kein zweites gibt.“
In den Anfangszeiten wurden Teestuben vor allem von Studenten besucht, die dort in Ruhe lernen konnten, berichtet Horák weiter. „Und es war eine Alternative zu den vielen Kneipen, ein Ort ohne Alkohol und ohne Zigaretten.“ Ganz so züchtig war wohl die Motivation nicht aller Begründer oder Besucher der ersten Teestuben. Nach dem Niedergang des einengenden Sozialismus wandten sich viele junge Tschechen auf ihrer Sinnsuche dem globalen Osten zu, fasziniert nicht nur von dessen reicher Kultur und Philosophie, sondern auch von diversen Praktiken der Bewusstseinserweiterung. Die meisten derer, die heute um die vierzig Jahre alt sind, berichten von Experimenten mehr oder weniger weicher Drogen in den wilden Neunzigern. Was passte besser dazu, als die Atmosphäre lichtarmer, entrückter Orte wie den ersten Teestuben?
Was Horák die „dunklen Höhlen“ der Anfangsjahre nennt, hat sich heute in hellere Sphären verlagert. Schon lange geht es nicht mehr nur darum, wie der Tee perfekt zubereitet wird, sondern auch um die Serviceleistungen drumherum. „Wer heute eine Teestube eröffnet,“ sagt Horák, „hat einen Business-Plan. Sie ist inzwischen ein gastronomisches Unternehmen. Viele bieten zum Beispiel auch Speisen an.“ Das gilt etwa für „Dharmasala“, eine tibetische Teestube, die seit gut zwei Jahren am Karlínské náměstí zu finden ist. Gerade hat sie sich um ein Bistro erweitert; der Verkauf von Wollprodukten aus Tibet etwa gehört seit Anfang an zu ihrem Konzept. Das „Dharmasala“ ist ein Beispiel für die moderneren Teestuben: dezentes, aufgeräumtes Inventar, keine Wasserpfeifen, vegetarisches Mittagsmenü und keine festen, sondern empfohlene Preise. Philosophie und Esoterik spielen aber auch hier eine tragende Rolle: Es gibt Abendkurse im Klangschalenspiel oder in tibetischer Kalligrafie.
Gegen den Trend
So stilistisch einheitlich ausgerichtet, wie auch Dřimals „Bílý Jeřáb“, sind die Teestuben der ersten Stunde in der Regel nicht. Vielmehr herrscht hier ein sympathisches Chaos, auch in der „Květinová čajovna“. „Es gibt sie schon so lange, dass ich mich nicht mehr genau erinnere, wann wir sie eigentlich eröffnet haben,“ überlegt Inhaberin Markéta Stočesová. „Aber 18 Jahre müssten es schon sein.“
Vieles hat sich über die Zeit angesammelt, im Interieur wie auf der Getränke- und Speisekarte. Wasserpfeifen zum Beispiel. Ihr Stammpublikum sucht vor allem die Ruhe, führt Stočesová aus. „Aber in letzter Zeit kommen viele jüngere Leute. Nicht wegen der Ruhe, sondern um Wasserpfeife zu rauchen.“ Damit passt sie sich der gestiegenen Nachfrage an, die vor allem von Schülern und Erasmus-Studenten ausgeht.
Für Horák gehören Tee und Shisha selbstverständlich zusammen. „Sicherlich nicht in der orthodoxen asiatischen Kultur“, räumt er ein, „aber in der des Nahen Ostens schon. Da geht es darum, einfach zu relaxen.“ Gegen diesen Trend kämpft Dřimal vehement an. „Hier in Prag ist Wasserpfeife schon zum Synonym für Teestube geworden“, kritisiert er. „Da geht es nur noch um das Geschäft.“ Um den Tee jedenfalls nicht, denn der gerät in einer solchen Umgebung aus dem Blick- beziehungsweise Geschmacksfeld. Dämmriges Licht, verrauchte Luft oder esoterische Musik würden das Trinkerlebnis verderben: „Das alles muss in den Hintergrund treten, wenn man sich einen Tee gönnt. Man muss sich auf ihn konzentrieren können. Darauf, welche Farbe er hat und welchen Geruch.“
Auch wenn der Tee nicht immer von exklusiver Qualität ist, schätzen die Besucher einer gemütlichen Čajovna den „langsameren Rhythmus“, wie Horák es nennt. Die Teestuben bewahren ein Bild des alten Prag, der alchemistischen Stadt mit ihren engen Gassen, schummrigen Gaslaternen und geheimnisvollen Mythen. Nahezu magische Orte, in denen man dem schnelllebigen Alltag entfliehen kann.
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