„Das historische Gedächtnis ist ungerecht“
Ein Gespräch mit František Šmahel, dem Nestor der tschechischen Mediävistik und wohl bestem Kenner der hussitischen Revolution und ihrer herausragenden Gestalten
25. 5. 2016 - Text: Josef Füllenbach, Titelfoto: Akademie věd České republiky (Stanislava Kyselová, CC BY-SA 3.0 CZ)
Noch als Gymnasiast sind Sie erstmals auf Hieronymus von Prag gestoßen. Er hat Sie dann durch Ihre gesamte wissenschaftliche Laufbahn begleitet. Womit hat er Sie so sehr fasziniert?
Gleich die erste Begegnung mit Hieronymus von Prag verband mich mit ihm für mein ganzes Leben. Das war ein Verdienst des florentinischen Humanisten Poggio Bracciolini, der als unmittelbarer Zeuge von Hieronymus’ Prozess dessen mutige Verteidigung und Tod auf dem Scheiterhaufen schilderte. Den größeren Teil von Poggios Brief trug uns unser Geschichtslehrer zu einer Zeit vor, als das kommunistische Regime seine Gegner und trotzigen Intellektuellen in den Tod zu schicke pflegte. Wegen meiner bürgerlichen Herkunft musste ich statt zur Hochschule zu gehen ein Jahr in einem Ostrauer Bergwerk arbeiten.
Und dann durften Sie studieren?
Ja, es gelang mir, an die Prager Philosophische Fakultät zu kommen; dort wollte ich mich vor allem dem heimischen Humanismus und der italienischen Renaissance zuwenden. Eine Weile beschäftigte mich der Gedanke, ob Hieronymus nicht einer der ersten Vertreter des frühen Humanismus war. Doch das war ein Irrtum. Dennoch kam mir mein Interesse an Hieronymus bald zustatten, als ich nach zweijährigem Wehrdienst und einer ebenso langen Tätigkeit im Museum von Litvínov (Leutensdorf) in das Historische Institut der damaligen Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften aufgenommen wurde.
Kann man sagen, dass Ihre Begegnung mit Hieronymus Sie dann zum Hussitismus als Hauptgebiet Ihrer Forschungen führte?
So war es. Ich habe nämlich mit dem Direktor des Historischen Instituts, den die radikalen Taboriten nicht mehr interessierten, die Renaissance gegen den Hussitismus getauscht. Und damit habe ich den Hussitismus als Forschungsfeld bekommen. Weil der 550. Jahrestag des Todes von Hieronymus vor der Tür stand, war mein erster Auftrag, ein Buch über sein Leben und Werk zu verfassen. Es war noch keine ausgereifte Arbeit, aber sie entstand in der schon vor dem Prager Frühling aufgelockerten Atmosphäre, in der die Intellektuellen eine führende Rolle spielten. Ende August 1968 machte die sowjetische Okkupation alle Hoffnungen auf eine größere Freiheit des Wortes zunichte. Fünf Jahre verbrachte ich als Straßenbahnfahrer.
Sie waren so lange von der Forschung abgeschnitten?
Nicht ganz, in meiner Freizeit habe ich Fotokopien mittelalterlicher Traktate gelesen, die ich mir noch rechtzeitig auf Vorrat beschafft hatte. Der Hussitismus sicherte mir erneut eine Arbeitsstelle, als mir Freunde aus dem Museum der revolutionären Hussitenbewegung in Tábor mit Mühe einen Platz in meinem Fach erkämpften. In Zusammenarbeit mit ihnen habe ich zwei Bände über die älteste Geschichte Tábors geschrieben und zudem den Stoff für meine vierbändige „Hussitische Revolution“ zusammengetragen.
Aber Sie haben auch über Hieronymus weiter geforscht?
Richtig. Als ich an der Schwelle meiner Siebziger von einer bösartigen Krankheit befallen wurde, habe ich geschwind meine lebenslangen Forschungen über Hieronymus zusammengefasst und über ihn einen ziemlich trockenen wissenschaftlichen Bericht vorgelegt. Zum Glück erwies sich die Eile als unnötig, so konnte ich seit jener Zeit zusammen mit Gabriel Silagi noch eine Sammlung von Hieronymus’ Schriften herausgeben.
František Palacký sprach Hus „einen ernsten und eisenfesten Charakter“ zu, dagegen Hieronymus „eine größere Lebhaftigkeit des Geistes und eine gewisse, auch äußere, Unstetigkeit“.
Das hat Palacký genau getroffen. Sein feuriges und leicht aufbrausendes Temperament jagte Hieronymus von Ort zu Ort, von Aktion zu Aktion und ließ ihm keine Muße zu großen Werken. Sein ganzes Leben blieb er ein gelehrter Globetrotter, den staubige Wege, Dispute in den Hörsälen und das Getriebe im öffentlichen Raum anzogen. Während Hus und andere Sprecher der böhmischen Reformbewegung nur selten Prag verließen, zählte Hieronymus zu den eifrigsten Reisenden seiner Zeit. Die existenzielle Ungebundenheit gewährte ihm eine größere Freiheit zum Handeln und zur öffentlichen Kritik der mit zwei und ab 1409 drei Päpsten gespaltenen Kirche. Aus diesem Grunde gab er sich auch mit den niederen Weihen zufrieden und blieb bis zum Lebensende ein Laie ohne die Pflichten eines Priesters. Wo immer er sich aufhielt, überall steigerte er seinen Ruf als schlagfertiger Debattenredner, aber auch die Zahl seiner Feinde.
Geriet er also schon früh in Gefahr?
Sogar des Öfteren. Im August 1410 geriet er in Wien sogar erstmals in die Fänge der Inquisition, aber erneut glückte es ihm, sich davonzumachen. Erzwungene Zusagen und Schwüre betrachtete Hieronymus weder früher noch später in Konstanz als bindend für sich. Hus war im Gegensatz zu seinem Freund im Kampf um die eigene Auffassung der Botschaft des Evangeliums ungewöhnlich ernsthaft und konsequent.
Hatten Hus und Hieronymus in allem, was die Reform der katholischen Kirche betraf, den gleichen Standpunkt?
Die gleiche Spannweite, die den europäischen Radius von Hus’ Wirkung und die streng tschechisch-nationale Denkart kennzeichnete, war auch für Hieronymus charakteristisch – den Tribunen und Ideologen der Reform. Dieser überall bekannte Provokateur, der Anführer studentischer Demonstrationen und Anstifter laienhafter Bilderstürmerei hielt sich nicht mit gelehrter Begründung von Reformzielen auf. Noch bevor andere das Für und Wider abgewogen hatten, predigte Hieronymus frei das Wort Gottes, zerstörte Kruzifixe und nahm die heilige Kommunion offenbar in beiderlei Gestalt. Andererseits vertiefte er sich in die Feinheiten der philosophischen Lehren von Wyclif.
In Ihrem letzten Buch über Hieronymus aus dem Jahre 2010 sprechen Sie vom „Desinteresse oder gar der Gehässigkeit eines bedeutenden Teils der tschechischen Öffentlichkeit gegenüber dem Hussitismus und dessen führenden Gestalten“. Bleiben Sie dabei auch nach dem eindrucksvollen Jahr des Gedenkens an den 600. Todestag von Jan Hus?
Kein Wunder, dass ich so darüber dachte, denn nach 1990 stellte die Publizistik die Geschichte erneut in breiter Front auf den Kopf und sah in den Hussiten bloß Zerstörer von Kirchen, fanatische Kämpfer für den Kelch und Räuber dazu. Umso mehr hat es mich überrascht, dass das Hus-Jubiläum ohne abstoßende Exzesse auskam. Im Gegenteil habe ich an vielen Orten ein ehrliches Interesse an Hus’ Vermächtnis festgestellt. Auch aus der Forschungsperspektive brachte das Jubiläum eine Reihe wertvoller Publikationen, Sammelbände und Kataloge großer Ausstellungen in Tábor und im Stadtarchiv von Prag.
Jetzt, im Jahre Karls IV., ist von Hieronymus’ rundem Jubiläum kaum etwas zu vernehmen. Und sonst steht er tief im Schatten von Hus. Wird das der Bedeutung von Hieronymus gerecht?
Das historische Gedächtnis ist unbeständig und ungerecht. Manchen schiebt es unverdient in den Vordergrund, andere ächtet es, dann errichtet es ihnen Denkmäler, die nach einer Zeit wieder geschleift werden. Es gibt aber auch Fixsterne, die über Jahrhunderte leuchten, mal mehr, mal weniger. Kaiser Karl IV. und Jan Hus gehören dazu. Hieronymus war stets „der Andere“. Das war schon in den Augen nicht nur von Kaiser Sigismund so, sondern auch der Prager Utraquisten.
Gibt es ein Vermächtnis von Hieronymus für uns Heutige?
In dieser Hinsicht bleibe ich eher nüchtern. Wir leben in einer Zeit, die Volkstribunen nicht gewogen ist, nicht einmal den intellektuellen. Ähnlich wie bei Hus ist auch mit Hieronymus die Aureole des Märtyrers verbunden, der für die eigene Wahrheit sein Leben einsetzt. Nicht diese Wahrheiten als solche, sondern die konsequente Standhaftigkeit bleibt ein oft unerreichbares Vorbild.
„Wie 1938“
30 Jahre PZ