„Das soziale Pulverfass kann jederzeit explodieren“
Schriftsteller und Regisseur Arnošt Goldflam über lokale Hoffnungsschimmer, Patriotismus und eine unverantwortliche Sozialpolitik
31. 7. 2013 - Interview: Klaudia Hanisch
In der Gesprächsreihe „20 Jahre Tschechien – eine Inventur“ lässt die „Prager Zeitung“ herausragende Meinungsführer Bilanz ziehen. Wo steht Tschechien 20 Jahre nach der Staatsgründung? Diesmal sprach PZ-Mitarbeiterin Klaudia Hanisch mit der Brünner Theaterlegende Arnošt Goldflam. Über viele Jahre hat der 66-Jährige einen besorgniserregenden Wandel in der Gesellschaft beobachtet. Besonders deutlich offenbarte sich ihm diese Entwicklung in den Straßen Brünns. Heute wünscht sich Goldflam vor allem eines: eine wirkliche politische Alternative.
Herr Goldflam, in den neunziger Jahren sind viele Persönlichkeiten aus dem Kulturbereich in die Politik gegangen. Sind Sie selbst nie auf die Idee gekommen, in eine Partei einzutreten?
Arnošt Goldflam: Nicht wirklich. Auch wenn ich Angebote hatte, habe ich nie ernsthaft darüber nachgedacht. Ich bringe nicht die nötigen Voraussetzungen mit, ich würde alles aufgeben müssen, was mir wichtig war: das Schreiben, das Theater, die gelegentliche Schauspielerei, schließlich auch die pädagogische Tätigkeit. Zudem muss ich sagen, dass ich – wie viele am Theater in Brünn, in dem ich lange tätig war – der Kommunistischen Partei beigetreten bin. Nachdem wir Projekte mit politischer und sozialkritischer Botschaft gemacht haben – die Inszenierungen von Havels Stücken etwa – wollten wir so den Erhalt des Theaters sichern. Das ist nichts Rühmliches, aber ich sage es, um das Bild zu vervollständigen. Es ist passiert und ich finde, die moralische Konsequenz daraus war, dass ich später nicht in die Politik eingetreten bin.
Die politische Kultur in Tschechien genießt einen sehr schlechten Ruf. Sehen Sie irgendwo einen Hoffnungsschimmer?
Goldflam: Den sehe ich in lokalen Initiativen, die sich mit konkreten Angelegenheiten beschäftigen. Etwa wenn es darum geht, ob eine Parkanlage für einen Neubau geopfert wird. So etwas mobilisiert die Leute. Aus solchen Initiativen könnte eine Alternative zum traditionellen, oft korrumpierten Parteiensystem entstehen. Aber das wären vielleicht zu hohe Erwartungen. Die Hoffnung besteht darin, dass solche Initiativen dazu führen, dass sich Menschen sozial einbringen und miteinander kommunizieren und so eine gemeinsame Ansicht oder Idee entsteht.
Gab es in den letzten Jahren eine Bürgerinitiative, für die Sie sich begeistern konnten?
Goldflam: Wissen Sie, bei mir ist das so, ich habe von Grund auf zu sehr vielen Sachen ein ambivalentes Verhältnis. Was ich jedoch gut finde sind Initiativen, die Land aufkaufen und zum Zwecke des Umweltschutzes in kleine Parzellen aufteilen. Oder Initiativen, die Ersatz- oder Pflegefamilien organisieren. Alles nach dem geflügelten Leitspruch „think global, act local“. Die Aktivisten haben die Hoffnung nicht verloren, dass solche Initiativen irgendwann eine globalere Dimension erreichen. Über die Studentenbewegung in Paris von 1968 etwa sagt man, dass sie wie ein Enzym in einer chemischen Reaktion gewirkt hat. Sie hat das Weltgeschehen tatsächlich beeinträchtigt, indem sie die Gesellschaft politisch aktiviert hat – zum Teil mit guten, zum Teil mit schlechten Konsequenzen.
Im Zuge der Wirtschaftskrise hat in Ostmitteleuropa – zumindest in der politischen Rhetorik – eher die nationale statt der lokalen Ebene an Bedeutung gewonnen. Auch Miloš Zeman bedient sich gerne der nationalen Rhetorik. Beunruhigt Sie das?
Goldflam: Ja, es ist eine schlimme Entwicklung, die recht kuriose Situationen erzeugt. Etwa als im Präsidentschaftswahlkampf die Ehefrau von Václav Klaus Schwarzenberg vorgeworfen hat, dass seine Gattin kein Tschechisch spricht. Dabei ist Livia Klausová selbst Slowakin. Wenn man es rational betrachtet, ist der Nationalismus gar nicht so alt. Es sind nur 150 Jahre vergangen, seitdem man angefangen hat, die Idee einer Nation wieder politisch zu nutzen. Allerdings sollte man den Nationalismus nicht mit Patriotismus verwechseln.
Was bedeutet für Sie Patriotismus?
Goldflam: Ich bin in Brünn geboren und mit dieser Stadt fühle ich mich am stärksten verbunden. Jetzt wohne ich in einem Prager Vorort und dieses Viertel wurde zu meinem Lieblingsort. Ich gehe dort gerne spazieren, lerne langsam die Leute kennen, habe unterschiedliche Beziehungen zu ihnen aufgebaut. Ich pflege Erinnerungen an diese beiden Orte. Politiker reiten jedoch gerne auf der Welle des Nationalismus, der zu Vereinfachungen und Manipulation führt. Sie unterschätzen, wie gefährlich das enden kann. Ein Beispiel ist, wie man mit der sogenannten Roma-Frage umgeht. Viele vergessen, dass ein gewisser Teil der sozial Unterprivilegierten selbst nicht im Stande ist, aus der Misere zu kommen. Es ist die Aufgabe des Staates und der Städte, ihnen zu helfen und dem Nachwuchs gerechte Bildungschancen zu bieten. Darüber wird viel geredet, aber letztendlich passiert nicht viel. Von Seiten des Staates geschehen nur kosmetische Maßnahmen.
Glauben Sie, dass Gewaltausbrüche wie in London vor zwei Jahren auch hierzulande möglich sind?
Goldflam: So etwas kann hier auch passieren. Ich weiß das, weil ich lange Zeit in Brünn gewohnt habe, in einem der Brünner Ghettos: Früher hieß es Zeilgasse, heute Cejl. Es ist eine Gegend, in der viele Roma und „weiße“ Unterprivilegierte wohnen. Dort herrscht heute eine hohe Arbeitslosigkeit. Es gibt Unmengen von Spielcasinos und gleich daneben Pfandhäuser. Damit entsteht die Spirale der Kriminalisierung der Bevölkerung. Es entsteht ein soziales Pulverfass, das jederzeit explodieren könnte. Ich habe dort länger als 30 Jahre gelebt und konnte beobachten, wie sich alles verändert. Vor Jahren wohnte ich dort im Erdgeschoss und einige Roma-Kinder guckten durch das Fenster rein und fragten mich, ob ich ihnen Buntstifte schenken kann. Als ich vor kurzem dort spazieren war, bot mir ein kleiner Junge Oralsex gegen Geld an. Das ist ein schrecklicher Wandel.
Nach 20 Jahren Existenz, sehen Sie die Tschechische Republik eher im Osten oder im Westen?
Goldflam: Es fällt mir schwer, diese Frage eindeutig zu beantworten. Wie soll man „Osten“ und „Westen“ definieren? Wenn wir davon ausgehen, dass der Westen für bessere Bildung, das Pflegen demokratischer Prinzipien und bessere Kommunikationsformen steht, der Osten aber für Korruption, Spontanität und mafiose Strukturen, dann sind wir auf halbem Weg zwischen dem Osten und dem Westen.
Somit in Mitteleuropa. Was sehen Sie als den größten Erfolg und was als die größte Niederlage auf dem Weg dorthin?
Goldflam: Vielleicht ist es meiner jüdischen Sozialisation zu verdanken, dass ich die Dinge aus einer dialektischen Sicht betrachte. In den zwanzig Jahren kam es zu einer Wendung zum Besseren, aber die Transformation vom totalitären System zum Laissez-faire-Kapitalismus zeigte schnell seine Schattenseiten und erwies sich zudem in einigen Bereichen leider als eine rein formale Veränderung.
Es erscheint durchaus möglich, dass nach den nächsten Parlamentswahlen die Sozialdemokraten die Regierung stellen werden, vielleicht jedoch um den Preis einer Zusammenarbeit mit den Kommunisten. Wie bewerten Sie diese Partei?
Goldflam: Sehen Sie, wir können das nur anhand dessen bewerten, was nach außen sichtbar ist. Wir sehen, dass heute einige junge Leute dieser Partei beitreten. Das passiert deshalb, weil keine andere Partei eine Agenda bietet, die auf mehr soziale Gerechtigkeit ausgerichtet ist. Gleichzeitig sehen wir, dass sich in der Partei ein harter Kern dogmatischer Funktionäre aus dem alten System hält, der dort immer noch politisches Gewicht hat. Aber diese alten Kader sterben langsam aus. Ich finde, dass das wichtigste Mittel zum gesellschaftlichen Fortschritt die Kommunikation ist. Deswegen glaube ich nicht, dass es richtig ist, die Kommunistische Partei zu isolieren. Das würde uns nicht weiter bringen. Am meisten würde ich mir jedoch eine glaubwürdige und dynamische sozialdemokratische Partei wünschen. Das Land braucht eine wirkliche Alternative zu den veralteten und korrupten Parteien rechts der Mitte. Aber was das anbelangt, bin ich ehrlich gesagt kein großer Optimist.
Zur Person
Arnošt Goldflam, 1946 in Brünn geboren, ist Schauspieler, Regisseur, Dramatiker und erfolgreicher Kinderbuchautor. Er gilt als eine der wichtigsten Figuren der Brünner Bohème. Nach dem Studium an der Janáček-Akademie für Musik und Darstellende Kunst in Brünn arbeitete Goldflam an mehreren Brünner Theatern, darunter von 1978 bis 1993 im HaDivadlo, dessen Stil er maßgeblich prägte. Seit den achtziger Jahren spielte er in über 40 kleineren Rollen in Fernseh- und Kinofilmen. Im Moment arbeitet Goldflam vor allem als Theaterregisseur und unterrichtet an den Theaterhochschulen DAMU und JAMU. Goldflam ist zum zweiten Mal verheiratet und Vater von drei Kindern.
„Online-Medien sind Pioniere“
Kinderwunsch nicht nur zu Weihnachten