„Das Traurige ist, dass die Eindeutschung funktioniert hat“
Die Historikerin Ines Hopfer-Pfister über die Verschleppung tausender Kinder während des Zweiten Weltkriegs
31. 10. 2013 - Interview: Nancy Waldmann
Ines Hopfer-Pfister ist Mitarbeiterin an der Technischen Universität Graz und hat in ihrem Buch „Geraubte Identität“ Schicksale eingedeutschter polnischer Kinder während des Zweiten Weltkriegs erforscht. Im Interview mit Nancy Waldmann erläutert sie die Systematik des Eindeutschungsverfahrens.
Frau Hopfer-Pfister, können Sie sagen, wie viele Kinder die Nazis ähnlich wie Karl Vitovec gewaltsam eingedeutscht haben?
Ines Hopfer-Pfister: Ich kann vor allem für Polen sprechen, wo die Kinder in großem Stil verschleppt und eingedeutscht wurden. Polnischen Schätzungen zufolge wurden bis zu 200.000 polnische Kinder eingedeutscht. Ich halte diese Zahl für zu hoch gegriffen. Auf der Grundlage der Akten der Nürnberger Nachfolgeprozesse, in denen die Verschleppung von Kindern ein Anklagepunkt war, sowie zeitgenössischer Dokumente, die ich in deutschen und polnischen Archiven gefunden habe, kann man von etwa 20.000 Kindern ausgehen.
Welche Dimension hatte die Eindeutschung im Protektorat Böhmen und Mähren?
Hopfer-Pfister: Von Fällen verschleppter tschechischer Kinder las ich in den Nürnberger Prozessakten. Dabei ging es um neun eingedeutschte Kinder aus Lidice, die nach dem Vergeltungsanschlag rassisch untersucht wurden. Sie bekamen deutsche Namen und kamen in ein sogenanntes Assimilierungsheim. Dort mussten sie ein Jahr lang Deutsch lernen und wurden dann in Pflegefamilien ins „Altreich“ vermittelt. So verlief typischerweise ein Eindeutschungsverfahren. Auf zwei weitere Kinder aus Lidice bin ich bei Recherchen über ein Lebensborn-Heim in Österreich gestoßen. Es gab auch 1943 Pläne, Kinder umgebrachter tschechischer Widerstandskämpfer einzudeutschen. Danach aber verliert sich die Spur.
Um wie viele verschleppte tschechische Kinder geht es im Protektorat insgesamt?
Hopfer-Pfister: Ich kann keine Zahlen nennen, da die Aktenbestände sehr lückenhaft sind. Der SS-Verein „Lebensborn“ hat eine zentrale Rolle bei der Eindeutschung der Kinder gespielt, die Unterlagen wurden jedoch mit dem Näherrücken der Front überwiegend vernichtet. Das ist ein großes Problem, das das Ganze zu einem weitgehend unbekannten Forschungsgegenstand macht.
Standen Kinder aus gemischten Ehen, wie Karl Vitovec, besonders im Fokus des Eindeutschungsverfahrens oder entschieden andere Kriterien?
Hopfer-Pfister: In erster Linie entschied das Erscheinungsbild, also ob die Kinder blond und blauäugig waren. Sie wurden vom Kopf bis zur Sohle vermessen. Die Kinder durchliefen eine gesundheitliche, eine rassische und eine psychologische Untersuchung. Im polnischen Raum ging es zunächst nur darum, Kinder aus Heimen und von Pflegeeltern zwischen zwei und zwölf Jahren herauszufischen, später nahm man sie auch ihren leiblichen Eltern weg. Bei kleinen Kindern änderte man nicht nur den Namen, sondern auch das Geburtsdatum. In den Assimilierungsheimen wurden sie geschlagen, wenn sie ihre Muttersprache gebrauchten. Jungen wurden paramilitärisch geschult.
Wer war verantwortlich für die Organisation des Eindeutschungsverfahrens?
Hopfer-Pfister: An der Spitze stand Heinrich Himmler. Sein Reichskommissariat für die Festigung deutschen Volkstums war die Koordinierungsinstanz. Das Rasse- und Siedlungshauptamt war für die rassischen Untersuchungen verantwortlich, der Lebensborn-Verein stellte die Heime zur Verfügung. Das Gesundheitsamt führte die Gesundheitskontrollen durch und auch die Jugendämter waren in dem Verfahren involviert.
Ging es den Nazis beim Eindeutschungsverfahren um die Arisierung des völkischen Blutes oder wollte man einfach führertreue Soldaten heranziehen, die man im Krieg dringend brauchte?
Hopfer-Pfister: Das Ziel war die ethnische Neuordnung Europas. Himmler hatte die Vision von einem Großgermanischen Reich vor Augen, dafür wollte er das deutsche Volk sowohl zahlenmäßig stärken, als auch – in den nazistischen Vorstellungen – das Blut aufwerten. Gleichzeitig ging es darum, slawische Völker zu schwächen und diesen Gesellschaften ihre Elite zu rauben.
Wie erging es den Kindern, die nach dem Krieg zurückgekehrt sind?
Hopfer-Pfister: Manche Kinder hatten sich bei den neuen Eltern wohlgefühlt. Als sie nach dem Krieg in die Heimat repatriiert wurden, gab es oft keine Verwandten mehr, die auf die Kinder warteten, dann kamen sie in Kinderheime. Die Kinder waren meist nicht willkommen, weil sie aus dem Feindesland kamen. Viele sprachen Deutsch und hatten ihre Muttersprache bereits vergessen. Sie wurden in der Schule gehänselt. Das Traurige ist, dass die Eindeutschung wirklich funktioniert hat. Diese Kinder wurden zweimal ihrer Identität beraubt.
In Deutschland haben die geraubten Kinder keine Entschädigung erhalten. Wie sieht es in Österreich aus?
Hopfer-Pfister: Im Jahr 2000 hat die Regierung ein Gesetz zur Errichtung eines Versöhnungsfonds beschlossen, der NS-Opfer entschädigen sollte. Opfer des „Eindeutschungsverfahrens“ erhielten einmalig knapp 1.500 Euro. Man musste allerdings sehr viele Unterlagen vorlegen. Da hat Österreich einmal eine Vorreiterrolle gespielt.
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