„Das wird die Mauer ins Wanken bringen“
Hans-Dietrich Genscher über seine berühmte Rede in der Prager Botschaft
25. 9. 2014 - Text: Marcus Hundt
Sein Auftritt auf dem Balkon der Deutschen Botschaft in Prag am Abend des 30. September 1989 war einer der bewegendsten Momente im Leben von Hans-Dietrich Genscher. Über 4.500 Flüchtlinge aus der DDR jubelten dem damaligen Bundesaußenminister zu, nachdem er ihnen die Genehmigung zur Ausreise verkündet hatte. Bei einem seiner letzten Besuche in der tschechischen Hauptstadt sprach er vor fünf Jahren ausführlich mit Chefredakteur Marcus Hundt über die damaligen Geschehnisse. Aus Anlass des 25-jährigen Jahrestags veröffentlicht die „Prager Zeitung“ einen Auszug dieses Interviews.
Haben Sie – ein gebürtiger Hallenser, der 1952 in den Westen geflohen war – die Lage der DDR-Flüchtlinge besser verstanden, als es ein Politiker aus Westdeutschland getan hätte?
Hans-Dietrich Genscher: Ganz gewiss ist es mir dadurch, dass ich 37 Jahre vorher ebenfalls die DDR verlassen hatte – was damals noch einfacher war –, leichter gefallen, die richtigen Worte zu finden, als ich vom Balkon sprach.
Was haben Sie direkt nach Ihrer Balkon-Rede getan?
Genscher: Ich bin danach sofort nach Deutschland zurückgeflogen. Ich war ja erst am Morgen aus New York von der Vollversammlung der Vereinten Nationen zurückgekehrt.
Sie hatten zwei Monate zuvor einen Herzinfarkt überlebt und waren immer noch geschwächt. Wurde es Ihnen von den Ärzten überhaupt erlaubt, nach Prag zu reisen?
Genscher: Die Ärzte hatten große Bedenken gegen die Reise nach New York. Dass ich nach nur wenigen Stunden Aufenthalt in Bonn, nach einem solchen Anlass nach Prag reisen wollte, erfüllte sie mit großer Sorge. Aber beides musste geschehen.
Die Entscheidung, die Ausreise der DDR-Flüchtlinge zu bewilligen, soll Erich Honecker persönlich getroffen haben. Fühlten Sie sich da nicht als eine Art „Marionette“?
Genscher: Wer am Ende entschieden hat, weiß ich nicht. Wir konnten nur, sowohl gegenüber der DDR-Führung wie gegenüber der sowjetischen Führung um Menschlichkeit und um Verständnis bitten.
Welche Rolle spielte dabei die tschechoslowakische Regierung?
Genscher: Die damalige tschechoslowakische Führung hat sich im Gegensatz zur ungarischen streng an das gehalten, was ihr aus Ost-Berlin gesagt wurde. Allerdings hat sie es uns sehr erleichtert, eine – wenn auch dürftige – Versorgung der über 4.000 Menschen in der Botschaft sicherzustellen. Mit großer Dankbarkeit habe ich die Sympathie empfunden, die die Prager Bevölkerung den Flüchtlingen entgegenbrachte.
Hätten Sie nach den Erlebnissen in der Prager Botschaft erwartet, dass fünf Wochen später die Mauer fällt?
Genscher: Wer hätte das voraussehen können? Eines war mir allerdings klar, als ich auf dem Rückflug über die Wirkung dieser Entscheidung nachdachte: Das wird die Mauer ins Wanken bringen.
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