Interview

„Dem Einzelnen eine Stimme geben“

„Dem Einzelnen eine Stimme geben“

Ein Gespräch mit Ondřej Černý, dem neuen Direktor des Tschechischen Zentrums in München

8. 1. 2014 - Text: Friedrich Goedeking

Seit Anfang dieses Jahres leitet Ondřej Černý das Tschechische Zentrum in München. PZ-Mitarbeiter Friedrich Goedeking sprach mit dem 51-Jährigen über die deutsch-tschechische Geschichte, sein Engagement für das Theater und darüber, was Deutsche und Tschechen voneinander lernen können.

Gibt es für Sie eine Kontinuität zwischen Ihrer bisherigen und Ihrer neuen Arbeit in München?

Ondřej Černý: Mit der Entscheidung, nach München zu gehen, setze ich etwas fort, was meine bisherige Laufbahn geprägt hat. Für meine Tätigkeit am Theater stand die Verbindung von tschechischer und internationaler Theaterszene immer im Mittelpunkt. Denn ohne den Austausch mit dem Bühnengeschehen in anderen Ländern versinken wir in der provinziellen Bedeutungslosigkeit. Wir können zwar das deutschsprachige Theater, wie es einmal das kulturelle Leben in Prag mitgeprägt hat, nicht wiedererwecken. Aber wir müssen nach neuen Möglichkeiten des Dialogs suchen. Weil mir das wichtig ist, habe ich mehrere Jahre als Dramaturg beim Prager Theaterfestival deutscher Sprache mitgewirkt und ebenso an der Prager Quadriennale. In München habe ich nun die Möglichkeit, über den Bereich der Kunst hinaus auch auf anderen Feldern, wie zum Beispiel der wissenschaftlichen Forschung, den Austausch zu fördern.

Was schätzen Sie an den Deutschen?

Černý: Ihre Zielstrebigkeit und ihr Bemühen, Probleme möglichst rational anzugehen und sich nicht von Emotionen beherrschen zu lassen. Ich mag außerdem ihre Arbeitslust, die Aufgeschlossenheit und das neugierige Interesse am Weltgeschehen. Und die Art und Weise, mit der sich die Deutschen mit ihrer Vergangenheit auseinandergesetzt haben.

Was könnten die Deutschen Ihrer Meinung nach von ihren tschechischen Nachbarn lernen?

Černý: Sie könnten sich abschauen, wie man Probleme lockerer und mit einem Schuss Humor angeht. In Sachen gesunde Skepsis, Empathie und Kreativität sowie Improvisationsfähigkeit könnten Sie ebenso von ihnen lernen.

Was hat Sie bewogen, sich so intensiv mit der deutschen Sprache zu beschäftigen? Welche Rolle spielen Deutschland und die Deutschen in Ihrem persönlichen Leben?

Černý: Meine Familie hatte schon immer ein enges Verhältnis zur deutschen Kultur. Meine Urtante war Übersetzerin, sie übertrug die Märchen der Gebrüder Grimm sowie Texte von Gottfried Keller ins Tschechische. Meine Mutter wiederum übersetzte vor allem Odön von Horvath. Und mein Bruder studierte Hungaristik und Germanistik in Budapest. Er war dann als tschechischer Diplomat in Deutschland und Österreich tätig. Deswegen war es ganz selbstverständlich, dass ich und meine Zwillingsschwester die deutschsprachig orientierte Kladská, eine Grundschule im Prager Stadtteil Vinohrady, besuchten.

Ein durchaus positives Verhältnis also…

Černý: Nein, nicht nur. Denn andererseits hatte meine Familie und vor allem meine Mutter Grund genug, die Deutschen nicht zu mögen. Ihr Vater Josef Hrubeš, ein geschätzter Staatsanwalt im südböhmischen Tábor, beteiligte sich während des Zweiten Weltkriegs aktiv an der Widerstandsbewegung. Leider wurde er von den Nazis entdeckt und im September 1943 in Berlin-Plötzensee hingerichtet. Meine Mutter fasste den Tod ihres Vaters als ein Opfer auf, das er für die Wiederherstellung der Ehre und der Würde seines Volkes gebracht hatte. Sie war sehr stolz auf ihn. Sie hasste die Nazis. Ich habe von ihr jedoch nie ein schlechtes Wort über die Deutschen gehört.

Deutsche und Tschechen verbindet eine lange, konfliktreiche Geschichte. Sollte man nicht einen Schlussstrich unter die oft leidvolle Vergangenheit ziehen und einen Neuanfang wagen?

Černý: Wir haben jahrhundertelang unsere Geschichte, unseren Alltag und unsere Kultur gemeinsam mit den Deutschböhmen und den Juden gestaltet. Ich empfinde es als einen großen Verlust, dass mit der Ermordung der Juden und der Aussiedlung der Deutschen der direkte Austausch nicht mehr möglich ist. Die Deutschböhmen und die Juden waren und bleiben ein wichtiger Teil der tschechischen Identität. Nein, eine fast tausendjährige Geschichte kann man nicht auslöschen. Man wird sie nicht dadurch los, indem man sie verdrängt. Tschechen und Deutsche haben geradezu die Pflicht, auch die schlechten gemeinsamen Erfahrungen zu thematisieren.

Wie kann eine solche Auseinandersetzung Ihres Erachtens aussehen?

Černý: Wichtig finde ich, dass wir auf die Geschichten einzelner Menschen hören. Auf solche, wie sie uns in der sogenannten Oral History (Methode der Geschichtswissenschaft, die auf der Befragung von Zeitzeugen basiert, Anm. d. Red.) begegnen. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit gelingt meiner Meinung nach umso besser, wenn man auch vor heftigen Konfrontationen nicht zurückschreckt. Natürlich sollten beispielsweise die Historiker die Vergangenheit wissenschaftlich und sachlich erforschen. Aber es muss dann auch der Einzelne mit seinen Erinnerungen und Erfahrungen eine Stimme bekommen.

Sie haben sich vor allem als Theaterexperte und -manager einen Namen gemacht. Sollte ein Leiter des Tschechischen Zentrums nicht besser aus dem Bereich der Wirtschaft oder der Politik kommen?

Černý: In der Wirtschaft und in der Politik muss man zwangsläufig darauf bedacht sein, einen diplomatischen Umgang mit dem Partner zu pflegen. Eine wirkliche Begegnung zwischen Tschechen und Deutschen aber lebt davon, dass beide Seiten einander auch unbequeme Wahrheiten zumuten. Da verfügen Kunst und Literatur über die Möglichkeiten, auf die ich bei meiner Tätigkeit in München gerne zurückgreifen möchte.