Der Altvater hütet seinen Schatz

Der Altvater hütet seinen Schatz

Eine Wochenendtour durch das Jeseníky-Gebirge

15. 5. 2013 - Text: Peggy LohseText und Foto: Peggy Lohse

 

Auf einer hohen Schafweide in Nordmähren soll einst dem armen Hirten Jan ein alter Mann begegnet sein. Er bat den jungen Schäfer um sein bestgenährtes Tier und führte ihn zur Belohnung in einen geheimen Berg voller goldener Münzen. Jan solle sich so viel Geld nehmen, wie er bräuchte, allerdings dürfe er ausschließlich Münzen wählen. Da Jan dem Glanz eines goldenen Kerzenständers nicht widerstehen konnte, braute das Väterchen aus Zorn über seinen Ungehorsam ein unheimliches Gewitter zusammen. Der Berg schloss sich. Als Jan am nächsten Tag erwachte, fand er sich auf dem Gipfel eines neuen Berges wieder. Aller Reichtum war verloren. Durch diese Legende kam die höchste Erhebung Mährens zu ihrem Namen: Der „Praděd“ – „Altvater“ – beherrscht mit 1.491 Metern Höhe die Hrubý Jeseníky, das Altvatergebirge.

Wir erreichen den Altvater in dichtem Nebel und bei andauerndem Nieselregen. Mitten in einer Regenwolke taucht er plötzlich vor uns auf: nicht der futuristische Fernsehturm von 1983 mit Hotel, Aussichtsplattform und Restaurant, sondern der Altvater höchstpersönlich, wenn auch nur als Holzfigur.

Eisbrocken im Mai
Der Anfangspunkt unserer kleinen Wochenendtour liegt 20 Kilometer und einen kräftigen Wetterwechsel zurück. Mit meinem Vater startete ich am Vortag bei strahlendem Sonnenschein, gut gelaunt und hoch motiviert, in Vrbno pod Pradědem. Die erste Etappe führte gemächlich hinauf ins Gebirge, zunehmend kleinere Dörfer. In der Ferne zeigt sich immer wieder der Zielpunkt des kommenden Tages: der Altvater mit seinem charakteristischen Fernsehturm. Die erste Nacht verbringen wir im schönen Kurort Karlová Studánka (Bad Karlsbrunn). Außer den großen Klinik- und Bäderanlagen besteht der Ort vorrangig aus Unterkünften und Pensionen. Im gesamten Ort gilt ein strenges Rauchverbot. Der Luftkurort erscheint wie ein Freilichtmuseum. Er präsentiert sich still und hübsch hergerichtet, in keinster Weise so überlaufen wie vergleichbare Orte – ein Fleckchen Erde, an dem man gern verweilen mag.

Im Naturschutzgebiet Altvatergebirge erwartet uns dann eine besonders abwechslungsreiche Landschaft. Entlang der Wasserfälle der Weißen Oppa führt ein anspruchsvoller Lehrpfad über Holzbretter und Leitern bis auf fast 1.000 Höhenmeter hinauf. In dem schattigen Tal lässt uns das Rauschen des Bachlaufes beinahe den nicht enden wollenden Regen vergessen. Zwischen umgestürzten Bäumen, die zum Wohle des Waldbodens absichtlich nicht beseitigt werden, finden sich Überbleibsel der Urwald-Flora und selbst Mitte Mai noch Schnee- und Eisbrocken. Selten nur spürt man in unseren Breitengraden so unberührte Natur. Vergleichbar erscheinen nur die Klettersteig-ähnlichen Pfade entlang verschiedener Wasserfälle des Slowakischen Paradieses.

Jenseits der 1.000-Meter-Marke lässt die Aussicht zu wünschen übrig. Je höher, desto kürzer die Sicht. Angekommen auf dem Altvater können wir selbst Gebäude erst dann erkennen, wenn wir  unmittelbar vor ihnen stehen. Völlig durchnässten Wanderern bietet die Ausflugsgaststätte auf dem Gipfel eine angenehme Gelegenheit, sich aufzuwärmen. Sowohl Atmosphäre als auch Preise sind weit entfernt von denen bekannter Touristenhochburgen wie zum Beispiel jenen im Riesengebirge. Überhaupt begegnen wir nur wenigen Wanderern: Ein paar polnische Grüppchen, einige tschechische und zwei bis drei deutschsprachige Wandergruppen treffen wir in den drei Tagen.

Verstecktes Panorama
Vom Altvatergipfel führt der rot markierte Weg E3 weiter über den Bergrücken des Altvatergebirges. Dieser Abschnitt ist Teil des 1983 eingerichteten Internationalen Bergwanderwegs der Städtepartnerschaft Eisenach–Budapest, dementsprechend vorbildlich ausgeschildert und gut begehbar. Bis Červenohorské sedlo folgen wir diesem Weg durch niedrige Gebirgsflora, Heidelbeersträucher und Nadelwälder. Nebel und Regen bleiben unsere treuen Begleiter; die großartigen Panoramaaussichten sind uns verwehrt. Dafür jedoch erzeugen die Holzbretter, die uns den Weg über durchweichten Grasboden ebnen, eine geheimnisvolle Hochmoorstimmung. Umgeben vom Wald aus Krüppelkiefern, in dem wir aufgrund des Nebels alles nur in Grautönen erkennen, fühlen wir uns in das alte Märchenbuch unserer Großmutter versetzt.

Im Wintersportzentrum Čer-venohorské sedlo beschränkt sich die Sichtweite auf nur einen Meter – fast hätten wir den Ort sogar völlig verpasst. Nach intensiver Suche im Nebel finden sich sowohl Unterkunft, als auch eine warme Möglichkeit zum Einkehren.

Am dritten Tag führt uns ein breiter Waldweg vom Bergrücken hinab und hinaus aus der Regenwolke. Wenn auch das Tropfen nicht enden will, immerhin bleibt der Nebel in den Gipfeln hängen und gibt den Blick frei auf einen frischen, hellgrünen Frühlingswald. Das frühe Grün, ähnlich der neongelben Regenhülle meines Wanderrucksacks, hebt die Laune. Wir beenden unsere kleine Wochenendtour zufrieden und entspannt, wenn auch ein wenig durchnässt, an der Bahnstation von Kouty nad Desnou.

Kaum zu glauben, dass das Altvatergebirge so wenig populär ist. Es bietet eine überraschend vielseitige Landschaft, ausgedehnte Gebirgsrücken und eine gut ausgebildete Infrastruktur. Auf der anderen Seite ist eines seiner klaren Vorzüge eben diese Abwesenheit großer Touristenmassen. Der Altvater scheint seinen wertvollen Schatz eben immer noch gut zu hüten.

Informationen Zur Tour

Anfahrt
per Zug: ab Olomouc nach Bruntál, Rýmařov, Šumperk oder Jeseník
per Bus: Cyklobus Jeseníky ab Olomouc, Šumperk und Krnov (mit Fahrradtransport), Turistbus Jeseníky ab Ostrava
oder Šumperk jeweils zur Baude Ovčárna
Unterkünfte
Červenohorské sedlo, Karlova Studánka: Jugendherberge bis Drei-Sterne-Hotels
Praděd: Sporthotel „Kurzovní chata“, Hotel „Vysílač“ (im Sendeturm)
Zeltplatz Vrbno, Bergbauden entlang des E3: Barborka, Švýcárna