Der brave Soldat Schwejk des Nahost-Konflikts
Tschechiens Politik gestaltet sich traditionell israel-freundlich. Doch auch hierzulande gibt es Aktivisten, die auf die Missstände in Palästina hinweisen
7. 5. 2013 - Text: Stefan WelzelText: Stefan Welzel; Foto: ISM
Das Treffen mit Zbyněk Kubišta soll im trendigen Café Calma im Prager Stadtteil Dejvice stattfinden. Es ist ein verregneter Samstagmorgen. Ältere Damen bestellen Tee und Kuchen, ein junger Mann sitzt vor seinem Laptop und trinkt Espresso. Zbyněk verspätet sich leicht und grüßt freundlich. Er wirkt ein wenig gestresst. Zbyněk schlägt sogleich vor, das Gespräch bei seiner Kollegin Jana zu führen. Auch sie könne viel über die Arbeit in und über Palästina erzählen. Es wären nur fünf Minuten mit dem Auto zu fahren.
Die Situation erinnert an einen konspirativen Zusammenschluss: Man verabredet Ort und Zeit, geht von dort allerdings woandershin, um ungestört zu sein. So oder so ähnlich stellt man es sich vor, wenn man unter widrigen Bedingungen lebt und in seinen bürgerlichen Freiheiten beschnitten wird. Diese Zeit ist in Tschechien bekanntermaßen vorbei, und auch in diesem konkreten Fall benötigt es natürlich weder Verschwiegenheit noch besondere Sicherheitsmaßnahmen. Zbyněk und Jana setzen sich völlig legal, öffentlich und mit Elan für eine Sache ein, die hierzulande für viele Menschen ein gesellschaftliches Randthema darstellt: das Los des palästinensischen Volkes im Nahen Osten.
Mein Freund, der Offizier
Im Wohnzimmer der Familie von Jana Ridvanová tobt sich deren kleiner Sohn gerade an allem aus, was er in seine Finger bekommt. An der Wand steht ein sehr großer Flachbildschirm, gegenüber ein Ecksofa – ein ziemlich unaufgeregtes und geradezu typisch bürgerliches Interieur. „In meinen Zwanzigern war ich viel in der jüdischen Gemeinde unterwegs und hatte viele gute Freunde dort“, verweist Jana auf ihre Vergangenheit und ihre gesellschaftliche sowie politische Offenheit. Sie will damit klarstellen, weit entfernt zu sein von antisemitischen Ansichten. Zu ihren Freunden gehörte auch ein ehemaliger ranghoher Offizier der israelischen Streitkräfte. „Seine sozialen Anlässe mit Abendessen und ungezwungenen Diskussionen erkannte ich erst nach einer gewissen Zeit als proisraelische Propaganda-Veranstaltungen. So kam es mir jedenfalls vor“, erinnert sie sich mit einer Prise belustigter Entrüstung. „Später, bei einer Reise nach New York, traf ich jüdische Friedensaktivisten, die sich zusammen mit Palästinensern für eine friedliche Lösung des Nahost-Konflikts engagierten. Ihre Positionen und Ansichten eröffneten mir einen neuen Zugang zu dem komplexen Thema, das so schwierig nun auch wieder nicht ist. Es wird von der israelischen Seite einfach verkompliziert, indem man die eigene Unterdrückungspolitik immer wieder mit Verweisen auf den Terror der anderen Seite rechtfertigt. Von aktivem Zionismus wird nicht gesprochen.“
Nach zwei Reisen in das okkupierte Palästina und den persönliche Erfahrungen setzte sich in ihr die Überzeugung fest, gegen die Ungerechtigkeit vorgehen zu müssen. „Die Unterdrückung des palästinensischen Volkes findet weitestgehend abseits der globalen Öffentlichkeit statt. Die Schikanen an den Checkpoints, bei Protesten getötete Friedensaktivisten, immer und immer wieder aufs Neue zerstörte Gebäude, dies alles ist Realität“, so Jana weiter. Es sei die israelische Propaganda, die stets und ausschließlich von terroristischen Akten seitens der Palästinenser spreche.
Weder Jana noch Zbyněk heißen abgefeuerte Raketen oder Selbstmordattentäter seitens gewaltbereiter Aktivisten gegen Israels Besatzung gut. Aber sie erklären sie durch die dauerhafte Zersetzung eines Volkes, das am Jordan seit Jahrtausenden ebenso seine Heimat hat wie vor der Vertreibung das jüdische.
Die 31-jährige Pragerin und der 41-jährige Zbyněk arbeiten für den tschechischen Ableger der „International Solidarity Movement“ (ISM), eine Bewegung, die sich zum Ziel genommen hat, der Welt das Schicksal der Menschen in Gaza und dem Westjordanland vor Augen zu halten. Dies soll mittels medialer Arbeit erreicht werden. Diskussionsrunden, Vorträge und Debatten werden veranstaltet, aufgezeichnet und später auf YouTube und der eigenen Homepage geschaltet.
Zwei Wahrheiten?
Erst kürzlich war der bekannte israelische Historiker Ilan Pappé zu Gast in Prag. Er gilt in seiner Heimat als Nestbeschmutzer, weil er die israelische Politik als gezielte zionistische Aktion sowie ethnische Säuberung geißelt und dies in den Kontext der Neuzeit stellt. Selbstredend stößt diese Sichtweise nicht überall auf Verständnis. Beim Abschlussvortrag Pappés in der Galerie Divus in Holešovice fordert eine Zuhörerin den Einbezug der israelischen Positionen in die Beurteilung der Lage – schließlich leben auch die Israelis in ständiger Angst vor Attentaten. Vielleicht gäbe es ja einfach auch zwei Wahrheiten. Wenn beide Seiten stur auf ihren Positionen verharren, bewege sich nichts. Das sind Argumente, die sich Zbyněk als Moderator der Veranstaltung zwar anhört, aber in dieser Form nicht nachvollziehen kann. Für ihn ist klar, dass solche Erklärungen von dem Konsens der führenden und meinungsbildenden globalen Medien und politischen Kräfte forciert werden. Und dieser ist mehrheitlich proisraelisch.
Zbyněk sieht die Lösung des Problems einzig in einer friedlichen Koexistenz innerhalb eines gemeinsamen Staates. „An eine Zwei-Staaten-Lösung glaube ich nicht mehr.“ Die Frage, weshalb sich gerade die Politik der Tschechischen Republik und mit ihr die Haltung vieler Tschechen so ausgeprägt auf die Seite Israels stellt, beantwortet Zbyněk mit dem Verweis auf den vorherrschenden Anti-Kommunismus. „Während des späten Realsozialismus war die Haltung der Tschechoslowakei propalästinensisch.“
Davor stand das Land, auch unter Stalinist Klement Gottwald, dezidiert auf israelischer Seite. Der junge Staat wurde von der ČSR militärisch wie diplomatisch unterstützt. In der Zeit der Normalisierung wurde man vom großen Bruder Sowjetunion jedoch zur Kehrtwende gezwungen. Der heute in vielen Teilen der tschechischen Bevölkerung ausgeprägte Hass auf den Kommunismus unterstützt eine Reflexhaltung des Common Sense, der darauf abzielt, die entgegengesetzte Linie von damals zu fahren. Jedoch glaubt Zbyněk nicht, dass eine ausgeprägte proisraelische Position in Tschechiens Bevölkerung auszumachen ist. Dies sei vielmehr ein Phänomen der herrschenden politischen Elite und der enorm unpopulären Regierung. Auch würden die ISM-Veranstaltungen ziemlich gut besucht. Der tschechische Durchschnittsbürger sei sich der Realitäten in Palästina immer mehr bewusst.
Mit Präsenz gegen Willkür
Das zweite Aufgabengebiet der Aktivisten nach der Medien-Berichterstattung liegt in der Beobachterrolle vor Ort. Friedensaktivisten aus aller Welt sollen nach Palästina reisen, um Israel von seiner Präsenz durch Misshandlungen und Willkür abzuhalten.
Jana und Zbyněk waren bereits zwei Mal in Palästina. Jana sogar in Gaza. „Wenn man die Angst in den Augen eines kleinen Mädchens nach einem Raketeneinschlag sieht, so geht einem das schon tief unter die Haut.“ Hat sie denn keine Angst, sich in diesen Zonen aufzuhalten? Die Antwort kommt prompt und weicht gleichzeitig aus. Gewiss sei es in Gaza nicht ungefährlich, im Westjordanland wäre es schon etwas besser. Die Freundlichkeit der Menschen, ihre Freude daran, dass Leute von außerhalb ihr Leid erkennen und etwas dagegen unternehmen, das sind die Hauptgründe, weshalb Jana Gefühle wie Furcht und Verzweiflung beiseite schiebe.
Die ISM vermittelt Schulungskurse in London oder Paris, wie man sich als internationaler Beobachter in Palästina verhalten soll. Aufenthalte und Workshops im Westjordanland sind dann der nächste Schritt. Zybněk möchte bald wieder nach Palästina reisen. Er befürchtet allerdings, auf der Schwarzen Liste Israels zu stehen. Gerade die friedliche internationale Hilfs- und Solidaritätsbewegung wird von den Israelis sehr kritisch beäugt und sogar bekämpft. Zufrieden erzählt Zbyněk eine Anekdote von seinem Erlebnis bei der Grenzkontrolle am Flughafen von Tel Aviv. Er habe einfach den dummen, braven Soldaten Schwejk gespielt und sich bei der Einreise an der kurzen Kontrollschlange für Einheimische angestellt. Nach mehrmaligem „So-tun-als-ob-er-nicht-versteht“ gab das Sicherheitspersonal entnervt auf und ließ ihn relativ problemlos passieren.
Auch Jana will so bald wie möglich in das Krisengebiet zurückkehren. „Wenn mein Sohn groß genug ist, um allein bei seinem Vater in Prag zu bleiben, gehe ich wieder nach Palästina. Oder ich nehme ihn einfach mit.“ Dabei funkeln ihre Augen. Und auf einmal weiß man nicht mehr so genau, wie viel Anteil bei dieser Absicht die politische Überzeugung und wie viel der private Bezug zu den Freunden in Palästina hat. Vermutlich ist es die Mischung aus beidem, die Jana so mutig sein lässt.
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