Der Weg in die Freiheit
Vor 25 Jahren besetzten Tausende DDR-Flüchtlinge die bundesdeutsche Botschaft in Prag und beschleunigten damit den Fall der Mauer
25. 9. 2014 - Text: Vilém PrečanText: Vilém Prečan; Foto: ČTK/AP/Diether Endlicher
Kein Schlüsselereignis der deutschen Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg berührte die Tschechoslowakei so unmittelbar wie jene zwölf Wochen im Spätsommer und Herbst 1989, die Zeit der drei Ausreisewellen von DDR-Bürgern in die Bundesrepublik. Und zu keiner Zeit – mit Ausnahme der Okkupation der Tschechoslowakei im August 1968 – waren die Augen der Weltöffentlichkeit so sehr auf Prag gerichtet wie damals. Im Sommer 1989 ahnten die Menschen noch nicht, dass das Jahr, das sie durchlebten, später als das „Jahr der Wunder“ in die Geschichte eingehen sollte. Freilich hatten die Umwälzungen in Polen und Ungarn, die Beseitigung der Schlagbäume an der ungarisch-österreichischen Grenze und die Einsicht Moskaus, dass die Breschnew-Doktrin von der „beschränkten Souveränität“ der sozialistischen Staaten nicht aufrechtzuerhalten war, eine Zeit des Umbruchs angedeutet. Doch dass es sich dabei um eine grundlegende Krise des kommunistischen Systems in Europa handelte und deren Folgen so rasch spürbar werden würden, hatten nicht einmal die westlichen Nachrichtendienste vorausgesehen.
Zwei Regime in Mitteleuropa, das tschechoslowakische und das ostdeutsche, trotzten dem Geist der Epoche. Ihre Bemühungen, sich gegen den Einfluss internationaler und innerer Faktoren zu wehren, die auf eine Öffnung hin zur Demokratie wirkten, machten aus beiden Verbündete. Im Sommer 1989 wurde die Welt Zeuge von Ereignissen, die zwar schon in den Jahren zuvor hin und wieder beobachtet werden konnten, jedoch selten mehr als einige hundert Menschen betrafen. Nun handelte es sich um ein Massenphänomen: Mit der Entscheidung, in die Bundesrepublik zu gehen, bekundeten zunächst Tausende, später Zehntausende DDR-Bürger die Perspektivlosigkeit ihres Lebens in der Deutschen Demokratischen Republik. Einige von ihnen suchten Zuflucht in der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin und in der Botschaft der Bundesrepublik in Warschau. Die Mehrheit jedoch nutzte den pass- und visafreien Reiseverkehr nach Ungarn und in die Tschechoslowakei. Von dort aus hofften sie, „in die Freiheit“ zu gelangen.
Das ungarische Modell bildet ein eigenständiges Kapitel, vor allem im Hinblick auf die Bereitschaft der ungarischen Behörden, den DDR-Bürgern den Weg über Österreich zu ermöglichen und sich mit der Bundesregierung – ohne Rücksicht auf die existierenden Abkommen und Verträge mit der DDR – über eine Lösung des Problems zu verständigen.
Ab der zweiten Augusthälfte wurde die westdeutsche Botschaft in Prag zum zweitwichtigsten Zufluchtsort. Nach dem 20. August drängten sich so viele Ostdeutsche im Lobkowicz-Palais auf der Kleinseite zusammen, dass die Botschaft und das Auswärtige Amt in Bonn keine andere Möglichkeit mehr sahen, als das Gebäude für den Publikumsverkehr zu schließen. Zu diesem Zeitpunkt hielt sich kaum ein Zehntel der Flüchtlinge in der Botschaft auf, die diese fünf Wochen später unterbringen und verpflegen musste – also bevor am 30. September der erste, von Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher ausgehandelte Exodus einsetzte. Weitere Ausreisewellen folgten am 4. Oktober sowie schließlich am 3. November, die ohne bürokratische Verzögerungen über die tschechoslowakische Grenze direkt in die Bundesrepublik führten.
Demonstranten in Dresden
Die erste Welle des Massenexodus, in deren Rahmen mehr als 6.000 Ostdeutsche in Zügen der Reichsbahn aus Prag über das Territorium der DDR in die Bundesrepublik ausreisten, hatte eine lange Vorgeschichte: Verhandlungen westdeutscher Vertreter in Prag am 7. und 27. September, wiederholte Demarchen des Botschafters Hermann Huber im Prager Außenministerium, Beratungen mit dem tschechoslowakischen Botschafter Dušan Spáčil in Bonn, Gespräche von Außenminister Hans-Dietrich Genscher mit seinen Amtskollegen der ČSSR, DDR und UdSSR in New York zwischen dem 25. und 29. September sowie die zweimalige Prager Mission des ostdeutschen Vermittlers, des Juristen Wolfgang Vogel, der sich darum bemühte, dass sich die DDR-Bürger in der Botschaft mit den Angeboten Ost-Berlins zufriedengaben und nach Hause zurückkehrten.
Nachdem jedoch über die Modalitäten der Ausreise entschieden war, ging alles sehr schnell und dauerte nur vom Abend des 30. September bis zum Morgen des 1. Oktober 1989. Die ersten Busse mit „Flüchtlingen aus der DDR“ fuhren vom Botschaftsgebäude um 19.30 Uhr ab, der erste Zug verließ den Bahnhof Prag-Libeň bereits um 21.30 Uhr. Der letzte Bus zum Bahnhof verließ die Botschaft am 1. Oktober, einem Sonntag, um 8 Uhr morgens. Der sechste, in Prag abgefertigte Sonderzug traf am gleichen Tag um 18 Uhr in der damaligen Grenzstadt Hof in Bayern ein.
Der zweite Exodus aus Prag in die BRD umfasste 8.270 Menschen und führte ebenfalls über das Gebiet der DDR, wobei acht Sonderzüge eingesetzt wurden, die in kurzen Zeitabständen zwischen 18.24 Uhr am 4. Oktober und 1.35 Uhr am 5. Oktober abfuhren. Die Durchreise durch die DDR verlief diesmal bei Weitem nicht so zügig und ruhig wie beim ersten Mal, vor allem wegen Zusammenstößen zwischen Polizeikräften und Demonstranten am Dresdner Bahnhof und anderen Hindernissen auf der festgelegten Trasse, die zur Umleitung vieler Züge zwangen.
Die halb geöffnete Tür
Da Bürgern der DDR am 3. Oktober um 17 Uhr die seit Jahren übliche Einreise in die Tschechoslowakei nur mit Personalausweis und ohne Pass und Visum verweigert wurde, verringerte sich alsbald der Zustrom in die westdeutsche Botschaft. Gleichwohl blieb er aber für alle beteiligten Parteien ein so gewichtiges Problem, dass sich die politische Führung der DDR damit befassen und vor allem nach neuen Regelungen suchen musste.
Das Tabu war bereits zweimal nacheinander gebrochen worden, jetzt ging es nur noch darum, unter welchen Bedingungen und auf welchem Weg die Botschaftsflüchtlinge ausreisen konnten. Der Ministerrat der DDR legte der Regierung der ČSSR am 18. Oktober das Konzept eines neuen Ausreiseprozederes vor, dem diese umgehend zustimmte: Darin hieß es, die Ausreise solle mit allen zur Verfügung stehenden Verkehrsmitteln aus der Tschechoslowakei direkt in die Bundesrepublik erfolgen, ohne den Umweg über DDR-Gebiet. Die Formalitäten sollten in der Prager Botschaft der DDR (dem heutigen Gebäude des Goethe-Instituts) erledigt werden; dort wurden die Antragsteller aus dem Staatsverband der DDR entlassen und mit einer Identitätskarte für die tschechoslowakischen Grenzorgane ausgestattet. Diese Regelung war aber auch mit einer Reihe von Einschränkungen verbunden und wurde nicht auf alle Botschaftsflüchtlinge angewendet.
Die bundesdeutsche Botschaft in Prag wurde erst am 25. Oktober über die neuen Richtlinien informiert, machte sich jedoch unverzüglich ans Werk: Noch am Nachmittag des gleichen Tages wurden die Antragsformulare ausgefüllt und an die DDR-Botschaft übergeben. Die erste Ausreise nach den neuen Regeln, durchgeführt mit gemieteten Bussen, wurde zum 27. Oktober vorbereitet. Das damit verknüpfte bürokratische Verfahren gestaltete sich jedoch langwierig, da die ostdeutsche Botschaft höchstens 100 Fälle am Tag erledigen konnte.
Inzwischen hatte das Politbüro des ZK der SED mit dem neuen Generalsekretär Egon Krenz an der Spitze am 24. Oktober beschlossen, die vorläufige Einstellung des freien Reiseverkehrs in die ČSSR mit Wirkung vom 1. November wieder aufzuheben – eine Maßnahme, die zweifellos der von Krenz am Tag seiner Wahl verkündeten Politik der „Wende“ folgte. Der tschechoslowakische Botschafter in Ostberlin František Langer gab die Information, die am 28. Oktober veröffentlicht werden sollte, umgehend nach Prag weiter und merkte an, die DDR-Führung sei der Auffassung, dass mögliche neue Flüchtlinge für die tschechoslowakische Seite kein Problem mehr bilden würden.
Direkt in den Westen
Die Situation entwickelte sich jedoch gerade umgekehrt. Bereits am 3. November setzte das Prager Außenministerium DDR-Botschafter Helmut Ziebart davon in Kenntnis, dass der Generalsekretär des ZK der KSČ Miloš Jakeš eine Botschaft an Krenz gerichtet hatte: Die Zahl der DDR-Bürger in der Prager Botschaft der Bundesrepublik steige rasant an und es sei unbedingt erforderlich, die Abfertigung der „betreffenden Bürger“ zu beschleunigen, um ihre unverzügliche Ausreise zu ermöglichen.
Von den Varianten, die Jakeš zu diesem Zweck vorschlug, konnte nur eine das Problem lösen: entweder die Grenze für Reisen in die Tschechoslowakei erneut schließen oder den „nicht öffentlichen Teil des wechselseitigen Vertrages über den touristischen Verkehr mit der DDR aufheben, der dazu verpflichtete, Bürger in ihr Herkunftsland zurückzubefördern, die versucht hatten, die Grenzen in ein Drittland illegal zu überschreiten“. Nicht diplomatisch formuliert hieß das, den tschechoslowakischen Organen sollte erlaubt werden, Ostdeutsche ungehindert in die Bundesrepublik ausreisen zu lassen.
In einem Bericht an Krenz schlug der Außenminister der DDR Oskar Fischer vor, der direkten Ausreise von DDR-Bürgern aus der Tschechoslowakei in die BRD ohne formelle Entlassung aus dem Staatsverband der DDR zuzustimmen. Noch am gleichen Tag, am Abend des 3. November, genehmigte das Politbüro des ZK der SED dieses Verfahren. Die beiden deutschen Botschaften einigten sich danach über die Details, alles Weitere war nur noch eine Angelegenheit der logistischen Fähigkeiten der Bundesbahn und der tschechoslowakischen Staatsbahnen. Am 4. November fuhren insgesamt sechs Züge aus Prag ab, in denen 6.453 DDR-Bürger in die Bundesrepublik ausreisten, weitere 500 bis 800 benutzten ihre eigenen Autos.
Das war freilich erst der Beginn der dritten Welle des Exodus, die sich Tag für Tag bis zu dem Augenblick ausweitete, als sich die Nachricht verbreitete, die Berliner Mauer sei durchlässig und zur freien Ausreise seien Grenzübergänge an der gesamten innerdeutschen Grenze geöffnet worden. Nach Ermittlungen des Prager Außenministeriums reisten vom 4. November bis zum Mittag des 10. November 1989 insgesamt 62.500 Bürger der DDR über die ČSSR in die Bundesrepublik aus.
Prager Ultimaten?
Im Zusammenhang mit den Entscheidungen des Berliner Politbüros vom 7. bis 9. November spricht die deutsche Literatur von einem Ultimatum Prags, das bei dem überstürzten Beschluss zur neuen Regulierung des Reiseverkehrs eine Rolle spielte und somit zum Mauerfall beitrug.
Die tschechoslowakische Seite – also die leitenden Apparate der KSČ, das Außenministerium, die Botschafter sowie der von der Partei gelenkte Propaganda-Apparat – verhielt sich solidarisch zur DDR im Sinne des Bündnisses, dessen Bande seit Frühjahr 1989 angesichts der Umwälzungen in Polen und Ungarn und in der Konsequenz dessen, dass Moskau dieser Entwicklung freien Lauf ließ, fester geknüpft wurden. Bei der Ablehnung von Gesuchen und Vorschlägen, die Vertreter der Bundesrepublik unterbreiteten, traten tschechoslowakische Politiker und Diplomaten wochenlang ebenso kompromisslos und abweisend auf wie die ostdeutschen Kommunisten. Sie bestanden darauf, dass es sich ausschließlich um eine Angelegenheit zwischen beiden deutschen Staaten handele und warfen mit dem Argument um sich, dass die Bundesrepublik internationale Abkommen verletze. Die Prager Propaganda verstieg sich zu der Behauptung, es gehe um einen durchdachten, organisierten Angriff gegen die DDR zu ihrem 40. Jahrestag, um die Erfolge beim Aufbau des Sozialismus auf deutschem Boden herabzuwürdigen, wie dies Generalsekretär Jakeš gegenüber dem Sekretär des ZK der SED Günter Schabowski bei dessen Besuch in Prag am 21. September wiederholte.
In der zweiten Septemberhälfte begann Prag jedoch seine Haltung zu ändern, auch wenn dies vor dem Blick der Öffentlichkeit und vor den Unterhändlern der Bundesrepublik sorgsam verborgen wurde. Am 21. September wurde der hohe Funktionär des Außenministeriums Milan Kadnár nach Berlin entsandt. Dort verhandelte er mit Außenminister Fischer, wobei er ausführlich die Solidarität der ČSSR mit dem Standpunkt der DDR betonte.
Damit bereitete Kadnár den Boden für das vor, was den Kern seines Auftrags bildete, nämlich die „höfliche Bitte und Anfrage vorzutragen“, ob die DDR nicht die Möglichkeit in Betracht ziehen könnte, das „Prager Problem“ durch einen einmaligen Akt wie im Jahr 1984 zu lösen (damals war eine dreimonatige „Besetzung“ der bundesdeutschen Botschaft in Prag durch Bürger der DDR durch die Zusicherung beendet worden, dass die betreffenden Bürger nach der Rückkehr in die DDR die Genehmigung erhielten, in die Bundesrepublik überzusiedeln). Kadnár deklarierte diesen einmaligen Akt als „große Ausnahme“ und zählte alle Gefahren und Schwierigkeiten auf, die die Situation in Prag in sich barg. So wies er darauf hin, zu welchen Zwecken sie seitens der „Feinde“ missbraucht werden könne, und sicherte zu, dass die ČSSR im Falle einer Regelung nach dem Muster der „großen Ausnahme“ für eine „hermetische Abriegelung der Botschaft der Bundesrepublik und für die Erhöhung des Stahlzaunes um die Botschaft“ sorgen würde.
Acht Tage später, am Morgen des 29. September, als die Situation in der Botschaft in der Vlašská-Straße als kritisch betrachtet wurde, gingen aus einer Beratung des ZK der KSČ Anweisungen für den Botschafter in Ost-Berlin hervor, der der Schwesterpartei unverzüglich Vorschläge unterbreiten sollte, die konkreter und schärfer formuliert waren als während der Kadnár-Mission am 21. September:
„1. Die DDR muss (…) eine aktivere Rolle spielen; die tschechoslowakische Seite erwartet, dass der Botschafter der DDR die tschechoslowakischen Behörden offiziell ersucht, die Schutzmaßnahmen um die Auslandsvertretung der BRD zu verstärken, um die DDR-Bürger daran zu hindern, über den Garten in die Auslandsvertretung einzudringen.
2. Die DDR könnte zum 40. Jahrestag ihrer Gründung eine Amnestie verkünden.
3. Im Rahmen der Amnestie die Anweisung erteilen, dass die Konsulate der DDR den DDR-Bürgern Reisepässe und Ausreiseurkunden für die BRD ausstellen und die Konsulate der BRD in den DDR-Pässen das Recht bestätigen, in die BRD einzureisen.
4. Die DDR stellt an der Auslandsvertretung der BRD in Prag Busse bereit und transportiert ihre Bürger mit den Reisedokumenten über das Gebiet der DDR an die Grenze zur BRD, wo sie diese entlässt.“
Wachsender Autoritätsverlust
Noch am gleichen Abend stellte sich mit der Entscheidung des Politbüros des ZK der SED ein Ergebnis ein, das dann im Exodus in der Nacht vom 30. September auf den 1. Oktober manifestiert wurde. Allerdings verstrichen kaum drei Tage, bis Prag darum ersuchte, den „einmaligen“ Akt vom 30. September zu wiederholen und einen weiteren „humanitären Schritt“ zu tun, nachdem die versprochenen Bemühungen darum, dass keine neuen „Flüchtlinge“ die „hermetische Abriegelung“ der Botschaft durchbrechen würden, bereits im Ansatz gescheitert waren, und die Situation noch bedrohlicher erschien als am 29. September.
Die Flut drängender Gesuche am 3. und 4. Oktober lässt ahnen, wie nervös, ja panisch KSČ-Führung, Regierung und Außenministerium auf den Umstand reagierten, dass sich der Beginn des vereinbarten Transports gegenüber dem angekündigten Termin um 24 Stunden verspätete.
Es ist schwer zu beurteilen, ob die nach Berlin übermittelten Befürchtungen, was in Prag alles geschehen könne – Demonstrationen der DDR-Bürger, „denen sich die Prager Intellektuellen, Dissidenten und junge Leute anschließen könnten“, Aktionen „nach dem Pekinger Modell“ – tatsächliche Ängste zum Ausdruck brachten oder nur den Druck auf die ostdeutsche Seite verstärken sollten. Nach außen demonstrierten freilich Regierung und Außenministerium der ČSSR weiterhin Solidarität mit der Haltung der DDR. Das Außenministerium stellte am 3. Oktober der westdeutschen Botschaft eine Protestnote zu, die das „rechtswidrige Verhalten“ der Botschaft anprangerte. Und eine Regierungserklärung vom gleichen Tag bezeichnete die Wiedereröffnung der Botschaft für Bürger der DDR als unverantwortlichen Schritt. Dessen ungeachtet tauchten gerade in dieser Zeit in den Demarchen und mahnenden Gesuchen, mit denen Botschafter Ziebart von tschechoslowakischer Seite überschüttet wurde, erste Andeutungen auf, dass die ČSSR – sollte mit der Bereitstellung von Zügen und Bussen nicht begonnen werden – an eine „eigene Regelung“ denken müsse, eine Formulierung die angeblich in einer Beratung fiel, die am frühen Morgen des 4. Oktober bei Ministerpräsident Ladislav Adamec stattfand.
Die Situation wiederholte sich, jedoch in zugespitzter Form, am 3. November. Jetzt reagierten Egon Krenz und das Politbüro allerdings viel rascher auf Jakešs Botschaft als Erich Honecker einen Monat zuvor. Die Führung der SED war zu diesem Zeitpunkt schon vollauf damit beschäftigt, die sich häufenden Demonstrationen auf den Plätzen der großen Städte unter Kontrolle zu halten, der Opposition Paroli zu bieten und ihrem wachsenden Autoritätsverlust in der Gesellschaft entgegenzutreten. Daher kam es ihr offensichtlich gelegen, dass das Problem der Menschen, die ihr Recht auf Ausreise in die BRD zu erzwingen versuchten, durch den Umweg über die Tschechoslowakei geregelt wurde, ohne dass sich die Partei sofort um dieses Problem kümmern musste. Vielleicht vermutete die Parteiführung auch, dass die „tschechoslowakische Regelung“ ein Ventil für die politischen Spannungen im Lande bilden würde.
Grenzen werden obsolet
Prag verlor jedoch zu dieser Zeit allmählich seine Geduld, und das eigene Interesse wurde wichtiger als die Interessen des engsten Verbündeten. Daher wurden der Botschafter der DDR in Prag und der Botschafter der ČSSR in Ost-Berlin am 8. November mit der „Bitte“ des Ersten Stellvertreters des Außenministers der ČSSR Pavel Sadovský konfrontiert, in Ost-Berlin ein Gesuch der tschechoslowakischen Regierung und der Abteilung für internationale Politik des ZK der KSČ zu übergeben, „dass die Ausreisen von Bürgern der DDR in die BRD auf direktem Weg stattfinden und nicht über das Gebiet der ČSSR“ führen sollten.
Schon damals, inmitten der Ereignisse, schrieb der Kommentator der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ Victor Meier am 8. November 1989 in seinem Artikel „Die Zelte im Garten sind leer. In der Prager Botschaft wird aufgeräumt“, auch auf deutscher Seite sehe man, dass die Tschechoslowakei ihren Beitrag zur Lösung des Problems geleistet habe. Denn sie habe die entstandene Lage anerkannt und sich nicht hinter Rechtspositionen verschanzt, was sie auch hätte tun können. Zu ihrem Entgegenkommen sei sie allerdings durch die Auffassungen beider Supermächte veranlasst worden; dann habe sie selber Druck auf die DDR ausgeübt, damit diese eine Lösung annehme, die für alle Beteiligten das Gesicht wahrte. Auch der Transport der Flüchtlinge in Sonderzügen durch die DDR bei den beiden ersten Wellen des Exodus gehe auf einen tschechoslowakischen Vorschlag zurück; die DDR habe diesem zugestimmt. In Prag heiße es, dass diese pragmatische Haltung gegenüber einigen Mitgliedern der eigenen Führung verteidigt werden musste.
Zwei Tage vor dem tatsächlichen Fall der Mauer zog Meier die Konsequenz: „Mit der von der DDR hingenommenen freien Durchfahrtsmöglichkeit durch die Tschechoslowakei existieren sowohl die Berliner Mauer wie die befestigte Westgrenze der DDR politisch nur noch bedingt. Man braucht diese Hindernisse jetzt nur zu umfahren.“
Egon Krenz begründete die Notwendigkeit, das „Problem der Ausreise“ neu zu regeln, in der Sitzung des ZK der SED am 9. November mit den Worten: „Den tschechoslowakischen Genossen fällt das allmählich zur Last, ebenso wie vorher den ungarischen Genossen.“ Die Bemerkung von Krenz – „Was wir in dieser Situation auch tun mögen, es wird immer ein schlechter Schritt sein“ – drückte sehr genau die Situation der SED-Führung aus: Die Alternative irgendeines „guten Schrittes“ bestand nicht.
Symbolischer Schlusspunkt
Die Ereignisse des „deutschen Herbstes“ in Prag hatten zumindest noch einen weiteren Aspekt, nämlich die Verknüpfung des Bankrotts des DDR-Regimes, abzulesen an den Wellen ostdeutscher Flüchtlinge, die um jeden Preis in die freie Welt gelangen wollten, mit der zunehmenden Verschärfung der allgemeinen Krise des tschechoslowakischen Regimes. Für die Tschechen und Slowaken war eine zweite demokratische Tschechoslowakei nie in Reichweite, daher bestand der einzige Weg zur Freiheit darin, die gegebenen Verhältnisse des Landes grundlegend zu ändern. Der Unterschied zur DDR lag freilich auch darin, dass es gerade damals für die Bürger der Tschechoslowakei kein Problem war, sich einen „Ausreisevermerk“ in ihrem Pass zu besorgen und in den Westen zu reisen.
Die Flucht der Deutschen aus dem verhassten DDR-Regime auf dem Umweg über Prag wurde aus vielen Gründen nicht zum Sprengsatz einer sozialen Explosion wie später die Vorgänge auf der Nationalstraße (Národní) in Prag am 17. November. Die tschechoslowakischen Bürgerinitiativen blieben gegenüber der Situation auf der Kleinseite insgesamt passiv. Allerdings wandte sich die Charta 77 am 14. September mit einer grundsätzlichen Stellungnahme zum Problem der DDR-Flüchtlinge an die tschechoslowakische Regierung und stellte ihre Erklärung auch den Medien zur Verfügung. Vor allem forderten sie, dass die Regierung im Hinblick auf die humanitären Aspekte der Situation der Flüchtlinge rasch handeln müsse.
Nach Auffassung der Charta gab es nur zwei Auswege aus der Situation. Entweder sollte die Regierung (unter Berufung auf die KSZE) allen Botschaftsflüchtlingen unverzüglich die Ausreise in die Bundesrepublik ermöglichen, wie dies kurz zuvor die ungarische Regierung getan hatte, oder die Situation sollte zumindest provisorisch dadurch geregelt werden, dass den DDR-Bürgern in der Botschaft andere Unterkunftsmöglichkeiten gewährt wurden.
Trotz der Passivität der Bürgerinitiativen machte sich die Solidarität der Prager mit den Flüchtlingen auch ohne Appelle spontan bemerkbar. Sie brachten den Deutschen, die mehrere Tage und Nächte auf der Straße zur Botschaft warteten, Tee und Kaffee und boten zumindest den Kindern für die Nacht ein Dach über dem Kopf an. Einige Tageszeitungen beschrieben die schwierige Lage der Flüchtlinge, ohne im Geringsten propagandistischen Versuchungen zu erliegen. Die zuständigen städtischen Dienste sorgten für hygienische Verhältnisse rund um die Botschaft. Und als schließlich die Busse abfuhren und die Flüchtlinge zum Bahnhof Prag-Libeň brachten, begleiteten sie der Beifall von Hunderten von Pragern und zum Siegeszeichen erhobene Hände.
Mitte November waren die vor kurzem noch auf Leben und Tod solidarischen Verbündeten – Honeckers DDR (wenn auch seit dem 18. Oktober ohne Honecker) und Jakešs Tschechoslowakei – nur noch auf sich selbst angewiesen, der eine wie der andere war international isoliert. Der für den 17. November vorgesehene Besuch von Egon Krenz in Prag wurde im letzten Moment abgesagt. Auf seine Art war es der symbolische Schlusspunkt des „deutschen Herbstes“ in Prag sowie der ganzen vorhergehenden Epoche.
Aus dem Tschechischen von Peter Heumos
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