Der Fall des „toten“ Studenten

Der Fall des „toten“ Studenten

Der angebliche Tod von Martin Šmíd bei den Studentenprotesten am 17. November 1989 in Prag gibt bis heute Rätsel auf

12. 11. 2014 - Text: Luděk NavaraText: Luděk Navara; Foto: Petr Brož

 

Wie war das eigentlich genau? Diese Frage erregt auch heute noch die Gemüter, 25 Jahre danach.

Eines ist jedenfalls sicher: Die Nachricht über den „toten“ Studenten rüttelte jeden auf. Der Akteur der Samtenen Revolution, Student und spätere Leiter des Instituts für das Studium totalitärer Regime (ÚSTR) Pavel Žáček schrieb, dass er gleich zu Beginn der Revolution mit einem Freund im Wirtshaus „U Zpěváčků“ einige kleine Flugblätter anklebte. Darauf stand: „17. November 1939 – 17. November 1989, Jan Opletal, Martin Šmíd. Wir werden nicht vergessen.“

Die „Kneipennachricht“ wurde sofort zur offiziellen. Viele hatten überhaupt keine Zweifel an ihr. „Den vom Rundfunk bestätigten Mord haben wir nie als einen zufälligen Irrtum wahrgenommen. Umgekehrt betrachteten wir ihn als den völlig logischen Gipfel der gesteigerten Repressalien und Versuche, die Bürger einzuschüchtern …“, erinnerte sich im Jahre 2009 Žáček in der Zeitschrift „Paměť a dějiny“ („Gedächtnis und Geschichte“).

Gerücht und Revolution

Der „Tod“ des Studenten wurde zu einem Impuls, der eine Lawine von Ereignissen auslöste. Und wenn es tatsächlich um eine Konspiration ging, dann war sie genial: „Wenn wir die Theorie akzeptieren, dass das vorbereitet war, dann war das perfekt vorbereitet. Martin sollte in die Slowakei fahren an einen Ort ohne Telefon, von wo er nach einigen Tagen zurückkehren sollte. Das hat er sich erst auf die letzte Minute anders überlegt“, sagte schon früher die Mutter des „toten“ Studenten, Jana Šmídová.

Noch lange nach der „Samtenen“ zerbrach sie sich über die Ereignisse den Kopf, doch zu einer definitiven Lösung ist sie eigentlich nie gelangt. Sie versteht nicht, wie die Nachricht überhaupt in die Medien kommen konnte: „Am 18. November habe ich im Realistischen Theater gesagt, dass mein Sohn am Leben ist.“ Dort fand am Nachmittag das erste Treffen der Studenten mit den Theaterleuten statt.

Aber der Name! An der Fakultät studierten nämlich zwei mit Namen Martin Šmíd, und so war eigentlich unklar, wer von beiden gestorben sein soll. Die Nachricht verbreitete sich weiter und die Nachrichtenagentur Reuters übernahm sie. „Wenn wir ein Gerücht so fabrizieren wollten, dass es möglichst nachhaltig ist, dann würden wir so vorgehen,“ sinnierte Šmídová.

Zudem sagte der lebendige Martin Šmíd, als er im Fernsehen sprach: „… der Tod hat mich angefasst.“ Für die damaligen Fernsehzuschauer eine nicht begreifbare Ausdrucksweise…

Noch viel unbegreiflicher ist das Schicksal der Frau, welche die Nachricht verbreitete: Drahomíra Dražská, eine Person mit sonderbarem Ruf. „Ich vermute, dass manches eine Konsequenz der eigenartigen Persönlichkeit von Frau Dražská ist. Das, was sie damals sagte, fiel auf fruchtbaren Boden. Aber dass das konstruiert gewesen wäre, das scheint mir nicht der Fall zu sein“, merkt der Historiker Oldřich Tůma an.

Jakeš: Absicht schließe ich nicht aus!

Die Anhänger der Konspirationstheorien verfügen über jede Menge „Munition“. Es geht bei weitem nicht nur um die Rolle des „erschlagenen“ Studenten Martin Šmíd. Da ist noch die seltsame Rolle des Agenten Ludvík Zifčák, der den Zug der Demonstration bis zur Polizeisperre auf der Nationalstraße führte.

Nehmen wir den überraschend harten Einsatz der bewaffneten Kräfte gegen die wehrlosen Studenten hinzu. Dazu noch am Jahrestag des brutalen Eingreifens der Nazis gegen die tschechischen Hochschüler im Jahre 1939. Es musste doch völlig klar sein, dass alle die Brutalität der Nazis mit der Brutalität der Kommunisten vergleichen werden. Das ist übrigens das Hauptargument der Verschwörungstheoretiker: Dass es erforderlich war, künstlich einen Impuls auszulösen, der das Geschehen vorantreiben würde.

Beachtenswert ist, dass sogar der damals mächtigste Mann, der Generalsekretär der Kommunistischen Partei Miloš Jakeš, rückblickend Zweifel hinsichtlich des Ablaufs der Geschehnisse jener Tage äußerte. In seinen Erinnerungen schrieb er: „… es ist nicht ausgeschlossen, dass es eine bestimmte Absicht gab, diesen Zusammenstoß zu provozieren und dessen Folgen politisch zu missbrauchen. Alles, was sich nach dem Einsatz ereignete, war von der Opposition schon zielbewusst beeinflusst und organisiert, und zwar unter Ausnutzung der Desinformation über den getöteten Studenten Šmíd. Es ging also nicht um einen Zufall, sondern um ein durchdachtes Vorgehen.“

Nach seiner Meinung hatte es jemand nötig, einen toten Studenten zu „produzieren“, um den Gang der Ereignisse zu beschleunigen und um die Wut der Öffentlichkeit gegen die Spitzenpolitiker zu richten. Also vor allem gegen ihn selbst. Dies umso mehr, als er selbst in seinen Erinnerungen tatsächlich schreibt, dass die politische Weisung damals lautete „Nicht gegen die Teilnehmer einschreiten“.

Aber wer würde eine solche Aktion so bravourös organisieren und durchführen? Und keine Spuren hinterlassen? Jakeš selbst präsentiert gleich mehrere Verschwörungstheorien: „Es ist nicht ausgeschlossen, dass es um eine Aktion mehrerer Leute der Staatssicherheit (StB) mit möglichen Verbindungen zu den Dissidenten ging.“

Ist es wirklich möglich, dass die StB eine Provokation angezettelt hätte, die sie selbst in letzter Konsequenz hinwegfegte? Oder hatte sie es anders geplant? In den Parteistrukturen führten Kämpfe verschiedene Flügel zusammen, von denen sich einige möglicherweise Veränderungen auf den höchsten Posten wünschten.

Aber Beweise fehlen. Und die Fachleute sind skeptisch: Warum sollte die StB oder ein Teil des kommunistischen Apparates auf ein so risikoreiches Spiel setzen, wie es die Mobilisierung der Öffentlichkeit mittels eines angeblich toten Studenten darstellt? „Die Verbreitung solcher Theorien kann ein Weg sein, sich mit der eigenen Niederlage auseinanderzusetzen. Nicht einzugestehen, dass das ganze System versagte. Dass die Opposition, die schwach aussah, auf einmal die Macht übernimmt. Damit kann man sich schwer abfinden“, sagt Historiker Tůma.

Der Fall Zifčák

Das Spiel, das die StB einigen Theorien zufolge in Gang setzte, war wirklich raffiniert. Der in ihren Diensten stehende Provokateur Ludvík Zifčák, der sich als Student Růžička ausgab, drängte sich schon lange vor dem 17. November in die Reihen unzufriedener junger Leute. Auch wenn ihm viele nicht vertrauten und ihn (mit Recht) für einen Spitzel hielten, war seine Tätigkeit auf ihre Art doch bewunderungswürdig. Und sie beschränkte sich nicht nur auf die Hauptstadt.

Die Brünner Studentin Jana Soukupová, in deren Wohnung sich Regimegegner trafen, stellte später fest, dass auch Zifčák unter ihnen war. „Bei den dreißig bis fünfzig Menschen, die dort regelmäßig teilnahmen, erinnere ich mich nicht mehr an sein Gesicht, und so weiß ich nicht einmal, wann er dort auftauchte.“

Im Jargon der Geheimpolizei würde man sagen, dass er langfristige Aufgaben hatte. Aber das Interesse an ihm verbindet sich vor allem mit der Demonstration in Albertov [ein Viertel im südlichen Teil des Stadtbezirks Prag 2; PZ] und mit der brutalen Knüppelorgie auf der Nationalstraße am 17. November 1989. Ging an der Spitze des Zuges nicht zufällig er? Und simulierte nicht er den toten Studenten?

Zifčák zieht auch heute noch die Aufmerksamkeit auf sich. Im vergangenen Jahr erregte er Aufsehen mit der Erklärung, dass es ohne Zustimmung der StB überhaupt keine Revolution gegeben hätte. „Nur Naive können denken, dass knapp tausend Dissidenten fähig waren, in der damaligen Tschechoslowakei das System zu ändern.“ Aber vielleicht übersieht er einfach den gesamteuropäischen Kontext: Der ganze Ostblock änderte sich, die Tschechoslowakei konnte nicht abseits stehen.

Es ist freilich nicht auszuschließen, dass sich einige nur mäßige Veränderungen wünschten: dass sie vielleicht nur irgendwie einen innerparteilichen Putsch wollten, der dann Adamec und Mohorita nach oben brächte? Beide hatten gewiss große Ambitionen, der Vorsitzende der kommunistischen Regierung Ladislav Adamec ahnte am ehesten den traurigen Zustand der tschechoslowakischen Wirtschaft und Vasil Mohorita wiederum, der Chef der den Kommunisten ergebenen Jugend, hatte sicherlich Informationen darüber, wie es in anderen Ländern aussah. Und es ist gut möglich, dass sie von dem konservativen Jakeš die Nase voll hatten.

Sobald jedoch Tausende auf die Straßen strömten, das musste auch ihnen klar sein, konnten die Ereignisse einen unkontrollierbaren Gang nehmen. Vielleicht kam ihnen das auch erst später zu Bewusstsein. Das heißt: zu spät.

Wohl zu viele Zufälle

Die bemerkenswerten Zufälle (die wir den vorangegangenen hinzufügen können) nehmen kein Ende: Während Václav Havel am 17. November nicht in Prag weilte, war dort Alexander Dubček, der normalerweise in Bratislava lebte. Er sollte sich mit einem Abgeordneten des Europäischen Parlaments treffen, der ihm mitteilen wollte, dass er den Andrej-Sacharov-Preis erhalten solle.

Doch Dubček wurde von der StB festgehalten und am nächsten Tag kehrte er gleich nach Bratislava zurück. Seine Erinnerungen gehen darüber nicht hinaus. Jakeš wollte an diesem Freitag in ein Erholungsheim an der Orlík-Talsperre aufbrechen. Der Innenminister František Kincl nach Ostrau …

Ein anderer Zufall, der auf wirklich bemerkenswerte Zusammenhänge hinweist, besteht allerdings darin, dass sich mit dem Stellvertretenden Chef des Geheimdienstes KGB Gruschko genau am 17. November in Prag dessen tschechoslowakische Kollegen trafen. Aus Moskau flog mit ihm gleich eine ganze Delegation ein. Worüber haben sie wohl verhandelt?

Nun, auch das weiß man schon. Die Sowjets schlossen hier einen Vertrag über die künftige Zusammenarbeit ab. Die war gegen den sogenannten äußeren Feind gerichtet, man befasste sich also nicht mit den aktuellen Geschehnissen.

Auch wenn die Sowjets denen paradoxerweise nicht entkamen. Sie wollten auf Einkaufstour gehen, aber da im Zentrum wegen der Studenten Polizeimanöver begannen, kamen sie nirgendwohin. Den Abend verbrachten sie dann angeblich lange mit Trinken. Bis anderntags halb vier. Das bestätigten bei späteren Verhören auch die Kellner, die sie bedienten.

Der damalige gemäßigte und reformorientierte (man sprach von Perestrojka) Moskauer Herrscher Gorbatschow gab zwar wiederholt zu verstehen, dass es mit der Einmischung in die internen Angelegenheiten der Vasallenstaaten ein Ende habe, aber wie sollte das in der Praxis umgesetzt werden? Die tschechoslowakischen Kommunisten orientierten sich stets an den Direktiven aus Moskau, wonach sollten sie sich nun richten? Wenn also die Sowjets zum Fall des Kommunismus in der Tschechoslowakei beitrugen, dann wohl am meisten damit, dass sie den Dingen ihren freien Lauf gewährten. Das war vielleicht sicherer als geheime Operationen zu organisieren.

„Sie werden mich erschießen“

Eine interessante Erinnerung beschreibt wiederum Jakeš in seinen Memoiren. Am 21. November 1989 besuchte ihn der Innenminister Kincl. Und sagte ihm angeblich: „Sie werden mich erschießen.“

„Auf meine Frage wer und warum antwortete er: meine Generäle. Auf die Frage nach dem Warum habe ich bis heute keine Antwort erhalten“, schreibt Jakeš. Möglich, dass seine Anmerkung nicht ernst zu nehmen ist, möglich, dass sie nur auf die Enttäuschung darüber hinweist, dass sich die Geheimpolizei dem Untergang des Regimes nicht entgegenstellte. Oder sollte dahinter mehr stecken?

Einer der seinerzeitigen Studentenführer, Václav Bartuška, der sich später ähnlich wie Žáček mit den Ereignissen gründlich befasste, machte allerdings wiederholt darauf aufmerksam, dass weder die StB noch sonst jemand das damalige Geschehen unter Kontrolle hatte. Nicht einmal Zifčák konnte den Zug anderswohin führen als auf die Nationalstraße, weil die übrigen Straßen blockiert waren. Und auch sonstige Konspirationstheorien lehnt er ab: „Es gab keinerlei Verschwörung, das Regime fiel einfach in sich zusammen“, sagte er schon vor zehn Jahren.

Mit den Ereignissen befassten sich Forscher, auch Historiker, und zwei Kommissionen untersuchten sie, wobei sie eine riesige Menge an Informationen und Zeugenaussagen zusammentrugen. Niemand fand etwas. Praktisch alle gelangten zu der Auffassung, dass es sich um eine spontane Erhebung der Nation gegen das Regime handelte.

Und sehr wahrscheinlich konnte es auch um nichts anderes gehen, zerfielen doch (jeweils kurz hintereinander) alle europäischen Diktaturen. Warum sollte die tschechoslowakische eine Ausnahme sein?

Es bleibt nur ein Rätsel: Warum wollen wir immer noch nicht daran glauben?

Der Artikel erschien zuerst in der Wochenend-Beilage der tschechischen Tageszeitung „Mladá fronta Dnes“ vom 8. November 2014. Übersetzung: Josef Füllenbach