Der Freigeist aus Turnov
Die Nationalgalerie widmet dem unkonventionellen Maler Jan Kotík eine umfassende Retrospektive
14. 11. 2013 - Text: René PfaffText: René Pfaff; Foto: RP
Manche Bilder des tschechischen Malers Jan Kotík fallen aus dem Rahmen – im wahrsten Sinne des Wortes. Sie brechen bewusst die starre rechteckige Form der traditionellen Bilderrahmung auf und teilen sie ein in Dreiecke, Quadrate oder Trapeze. Zuweilen verzichtete Kotík sogar ganz auf die geometrische Einfassung. Dann befreit sich der Inhalt völlig vom Zwang der äußeren Form – es entstehen sozusagen emanzipierte Gemälde. Der Übergang zur Skulptur ist dabei mitunter fließend.
Wie diese Grenzen im Laufe der Jahre in den Werken von Kotík mehr und mehr verwischten, zeigt derzeit eine Ausstellung der Nationalgalerie.
Die reichhaltige Retrospektive im Holešovicer Messepalast ist dabei ebenso ausführlich wie kurzweilig. Im ersten Stock des Museums werden die verschiedenen Schaffensperioden und damit die künstlerische Entwicklung Kotíks sichtbar. Angefangen beim gegenständlichen Kubismus seines Frühwerks, in dem auch der Einfluss seines Vorbilds Paul Klee noch gut zu erkennen ist, bis hin zum originären Kotík-Stil der Haupt- und Spätphase. Die Werke dieser Periode lassen sich am ehesten als collagenartige Verflechtung von Materialien wie Holz und Textilien mit moderner Malerei und chinesischer Kalligraphie beschreiben.
1916 kam Jan Kotík in Turnov bei Liberec als Sohn des Malers und Grafikers Pravoslav Kotík zur Welt. Aus der nordböhmischen Provinz zog es den jungen Mann 1934 in die Hauptstadt, wo er ein Studium an der Akademie für angewandte Kunst begann. 1937 gewann der damals erst 21-Jährige eine Bronzemedaille bei der Pariser Weltausstellung. Zur Zeit der deutschen Okkupation wurde Kotík Teil der avantgardistischen „Skupina 42“ („Gruppe 42“), einem losen Zusammenschluss von Dichtern, Malern und Bildhauern, dem auch der Kunsttheoretiker Jindřich Chalupecký angehörte. Die Vereinigung wurde nach dem kommunistischen Putsch von 1948 verboten – ihre Technikbegeisterung und Stadtfixierung sollten die tschechische Kunst aber noch bis in die sechziger Jahre hinein maßgeblich beeinflussen.
Flucht zu Glas und Buch
Die Ereignisse des Jahres 1948 stellten nicht nur für die „Gruppe 42“, sondern auch für Jan Kotík selbst eine Zäsur dar. Das neue Regime belegte den Maler mit einem Veröffentlichungsverbot, während der stalinistischen Zeit verlegte sich der Künstler daher auf Industriedesign, Glaskunst und Buchbinderei. Dieser Facette seines Schaffens ist in der Ausstellung eine eigene Abteilung gewidmet. Die Vasen und Buchumschläge sind ein interessanter Kontrast zur wenig gegenständlichen Hauptschaffensphase Kotíks, der der weitaus größte Teil der vorzüglich zusammengestellten Werkschau gewidmet ist.
Ihr zeitlicher Beginn fällt in etwa mit der Emigration des Künstlers in die Bundesrepublik zusammen. Kotík, der seine Arbeit stets als konträr zum vorherrschenden sozialistischen Realismus betrachtete, war 1969 als Stipendiat des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) nach West-Berlin gekommen. In dem freigeistigen Künstlermilieu der Mauerstadt konnten sich seine künstlerischen Ideen endlich ungehindert entfalten. Die neue Umgebung stand ganz im Gegensatz zur repressiven Situation in seiner Heimat während der Normalisierung. Kotík blieb daher an der Spree und kehrte nicht mehr nach Prag zurück. 1979 folgte im Schloss Charlottenburg Kotíks erste große Ausstellung in Deutschland mit dem Titel „Jan Kotík: Arbeiten (Work)“. Der Zugang zu diesen modernen „Arbeiten“ allerdings ist nicht immer einfach – doch darauf kam es dem freundlichen Herrn mit dem markanten Backenbart gar nicht an. In einem Aufsatz aus dem Jahr 1963 schrieb Kotík: „Ich verstehe wirklich nicht, weshalb jeder meine Gemälde verstehen soll. Manchmal brauche sogar ich einige Zeit, um sie zu entziffern.“
Raum statt Rahmen
Aber selbst wenn man nur den ästhetischen Wert der Kunstwerke bemisst, gerät man rasch ins Staunen: Besonders die Collagen und Skulpturen zeugen von einer ungeheuren Schaffensfreude und Kreativität. Und die macht auch am selten vorhandenen Bilderrahmen nicht Halt. So sind in der Ausstellung auch handschriftlich beschriebene Zettel zu sehen, auf denen der Künstler detailliert vorgibt, wie seine Werke im Raum platziert werden sollen – der Ausstellungsraum tritt hier an die Stelle des Bilderrahmens.
Ergänzt wird die Retrospektive über Jan Kotík, der im März 2002 86-jährig nach langer Krankheit in seiner Wahlheimat Berlin verstarb, durch mehrere Texte des Künstlers. Diese Auszüge aus kunsttheoretischen Briefwechseln und Essays liegen auch in englischer Sprache aus. Ein Dokumentarfilm wird ebenfalls gezeigt, jedoch leider ohne englischsprachige Untertitelung.
Jan Kotík (1916–2002). Veletržní palác (Dukelských hrdinů 47, Prag 7), geöffnet: täglich außer montags 10–18 Uhr, Eintritt: 100 CZK (ermäßigt 50 CZK), bis 23. März 2014
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