Der morbide Charme der Ewigkeit

Der morbide Charme der Ewigkeit

Die „Knochenkirche“ bei Kutná Hora ist nicht nur für Anhänger der Gothic-Szene ein skurriles Ausflugsziel

31. 10. 2012 - Text: Yvette PolášekText und Foto: Yvette Polášek

 

Seit jeher gedenken Menschen ihrer Ahnen und Verstorbenen. Der Erinnerung an die Dahingeschiedenen nahm die katholische Kirche zum Beispiel den 2. November als „Allerseelen“ in den Kalender ihres Festjahres auf. Die Evangelische Kirche, die lange Zeit einen eigenen Trauertag für die Toten ablehnte, gab 1540 dem Wunsch ihrer Gläubigen nach: Sie widmete den letzten Sonntag vor dem ersten Advent, den sogenannten Totensonntag, den Verstorbenen. Heute führen diese beiden Tage viele zu den Gräbern ihrer Angehörigen.

In der Vergangenheit, vor allem im Mittelalter, führte der pietätvolle Weg nicht auf den Friedhof, sondern ins Beinhaus – den sogenannten Karner. Dort wurden ausgegrabene Schädel und Knochen gelagert, sobald sich auf dem Friedhof kein Platz mehr für sie fand. Diese eigentümlichen Begräbnisstätten sind heutzutage größtenteils verschwunden. Mit Sedlec bei Kutná Hora und Mělník haben sich jedoch zwei der größten Ossuarien in der Tschechischen Republik erhalten können.

Makabrer Künstler
Das Beinhaus in Sedlec, rund 70 Kilometer südöstlich von Prag, galt vor einigen Jahren noch als Geheimtipp. Inzwischen hat sich die obskure Sehenswürdigkeit in eine Attraktion für Touristen verwandelt, insbesondere seitdem die in Sedlec befindliche Kathedrale Mariä Himmelfahrt (Katedrála Nanebevzetí Panny Marie) im Jahre 1995 in die Liste der UNESCO-Weltkulturerbe aufgenommen wurde. Zu Recht, war sie doch die erste im gotischen Stil errichtete Kathedrale Mitteleuropas und bis zur Fertigstellung des Prager Veitsdoms das größte Gotteshaus in Böhmen.

So manchen Besucher wird beim Betreten des Ossuariums sowohl Faszination als auch Erschaudern ergreifen. Vielleicht kommt ihm der mittelalterliche Ausdruck „memento mori“ – „Bedenke, dass du sterben musst!“ – in den Sinn. Ein Schlagwort, das der Vergänglichkeit des Lebens gemahnen sollte. Im Angesicht der rund 40.000 zu vier riesigen Pyramiden aufgetürmten Gebeine und unzähligen Knochen-Ornamente kein abwegiger Gedanke.

Die heutige Gestalt des einzigartigen Karners ist dem Holzschnitzer František Rint zu verdanken, der 1870 im Auftrag von Fürst Schwarzenberg die hier gelagerten Knochen zu morbiden Kunstwerken zusammenfügte – zu Kronleuchtern, Kerzenständern, Kelchen, Kruzifixen und Girlanden. Ins Auge sticht das riesige Wappen der Fürstenfamilie im linken Teil der Kapelle. Vor allem eine Krähe in der unteren Hälfte des Wappens erzeugt Gänsehaut: Sie hackt in der Augenhöhle des Schädels eines besiegten Türken. Die Darstellung dient der Erinnerung an die Bezwingung der Festung Györ durch Adolf von Schwarzenberg im Jahre 1598. Am Kopf des besiegten Heiden befestigte der makabre Künstler einige Rippen, um sich dem Originalwappen der Schwarzenbergs so exakt wie möglich anzunähern. Die Krönung der Kapelle stellt jedoch ein riesiger, achtarmiger Kronleuchter dar. Er schwebt in der Mitte des Raumes über den Köpfen der Besucher; angeblich sind sämtliche Knochen des menschlichen Körpers darin verarbeitet.

Ein Stück heilige Erde
Es stellt sich die Frage, woher die zahlreichen Knochen im relativ kleinen Untergrund der Friedhofskirche eigentlich stammen. Die Erklärung ist einfach. Der hiesige Abt des Sedlecer Zisterzienserklosters Jindřich reiste Ende des 13. Jahrhunderts ins Heilige Land, aus dem er ein Säckchen mit heiliger Erde mitbrachte. Diese verstreute er auf dem Friedhof in Sedlec. Seither wollten tausende Menschen von nah und fern ihre letzte Ruhe auf der Begräbnisstätte finden, auf der sie nun auch Spuren des Heiligen Landes wähnten. Die meisten Verstorbenen, mutmaßlich um die 30.000, wurden hier aber während der Pestepidemie im Jahre 1318 und danach währen der Hussitenkriege bestattet. Da der Friedhof sich rasch füllte, mussten die Mönche die alten Gebeine oftmals exhumieren, um Platz für neue Gräber zu schaffen. Die ausgegrabenen Knochen stapelten sie gereinigt, desinfiziert und mit Chlorkalk gebleicht im Untergeschoss der Friedhofskapelle. Es ist überliefert, dass bereits Anfang des 16. Jahrhunderts ein blinder Mönch die hier eingelagerten Gebeine zu sechs Pyramiden aufgeschichtet hat. 350 Jahre später verlieh František Rint dem kleinen Karner auf dem Sedlecer Friedhof schließlich seine einmalige künstlerische Note und verhalf der Kapelle somit zu Ruhm, der weit über die Landesgrenzen hinaus reicht.

Zukunft ungewiss
Ob das morbide Ausflugsziel – die „bone church“ wie sie von englischsprachigen Touristen genannt wird – auch weiteren Generationen offen stehen wird, müssen die kommenden Jahre erst noch zeigen. Seit 2011 beobachten Statiker das Beinhaus aufs Genaueste – Sorgen bereitet ihnen die fortschreitende Neigung des Baus. Verursacht wird das Problem durch den Lößboden, auf dem die Krypta steht. „Sobald zu der Lößschicht Wasser durchdringt, entsteht Schlamm. Dieser verhält sich wie ein Wasserbett“, erklärt der Statiker Vít Mlázovský. Und fügt erklärend hinzu: „An der Stelle, wo die Erde am Schwersten ist, biegt sich das Beinhaus. Das funktioniert wie bei einer aufblasbaren Liege. Wenn man sich mit dem Ellbogen an einer Stelle dagegen lehnt, entsteht auf der anderen Seite der Oberfläche eine Beule.“ Es wird sicherlich notwendig sein, die Fundamente zu vergrößern – was mit Bedacht und pietätvoller Rücksicht auf den umliegenden Friedhof eine Herausforderung sein dürfte.

Beinhaus Sedlec (Kostnice), (Zámecká 279, 284 03 Kutná Hora – Sedlec), geöffnet: November–Februar täglich (außer 24.12.) 9–16 Uhr, Eintritt: Erwachsene 60 CZK, Tel. 326 551 049, E-Mail: ic@sedlec.info

Weitere Informationen unter www.sedlec. und www.kostnice.cz