Der Weg ist die Heimat

Der Weg ist die Heimat

Als 23-Jährige unterzeichnete Dáša Vokatá, Liedermacherin des tschechoslowakischen Underground, die Charta 77. Drei Jahre später wurde sie mit ihren Kindern ausgewiesen – nach Österreich

2. 4. 2015 - Text: Magdalena SchluckhuberText: Magdalena Schluckhuber; Foto: Ben Skála

Dáša Vokatá sitzt in ihrer Wiener Wohnung und trinkt Tee. Ihr Magen knurrt laut, für das Gespräch hat sie nicht viel Zeit. Die 60-Jährige ist an diesem Tag im Hungerstreik, 24 Stunden wird sie nichts essen. „Ich gedenke meiner Eltern und Großeltern. Für mich sind auch sie Opfer des kommunistischen Regimes, auch wenn sie offiziell nie als solche bezeichnet werden.“ Vokatá nimmt an einer Aktion der tschechischen Organisation „Bez komunistů“ („Ohne Kommunisten“) teil.

Der Selbstmord ihres regimekritischen Vaters, der im Keller Schriften von Dissidenten versteckte und unter den Kommunisten nicht mehr leben wollte, stellte für Dáša Vokatá 1976 eine Zäsur dar. Sie packte ihre Gitarre, wanderte von ihrer Heimatstadt Ostrava aus durchs Land, sang ihre Lieder und fand Gleichgesinnte. Im nordböhmischen Rychnov schloss sie sich einer Gruppe junger Menschen rund um Václav Havel, Pavel Landovský und Jiří Němec an. Von nun an lebte sie im Underground, führte einen alternativen Lebensstil jenseits von Konsum und gesellschaftlichen Zwängen der Zeit. Sie schrieb Protestsongs, die die Wirklichkeit in der kommunistischen Tschechoslowakei, aber auch   Hoffnung und Sehnsucht nach Gerechtigkeit einfangen sollten.

Große Hilfsbereitschaft
In Nordböhmen lernte sie auch ihren späteren Mann Zdeněk Vokatý kennen. Er war einer der ersten Unterzeichner der Charta 77. Als 23-Jährige unterzeichnete die damals Hochschwangere selbst. Danach begann für sie eine Odyssee. Das Haus in Rychnov wurde gesprengt. Dort wohnten Menschen, die sich dem Underground zugehörig fühlten, die Charta 77 unterzeichneten, nicht regime-konforme Musik spielten, verbotene Literatur diskutierten und auch trotz Sanktionen durch die Polizei weitermachten. „Wir wohnten fast alle drei Monate bei anderen Freunden, wir mussten immer wieder weg. Wir wurden schikaniert, unsere Wohnungen wiederholt aufgesucht und zerstört“, erzählt Vokatá. Viele ihrer Freunde mussten ins Gefängnis. „Es war schrecklich. Wir wussten nie, wer der nächste sein würde. Manchmal hatten ich und meine Kinder dadurch aber Glück und konnten in die Wohnungen der Gefangenen ziehen, zum Beispiel in die von Václav Havel.“ Auch heute denkt sie oft daran zurück: „Der Zusammenhalt und die Hilfsbereitschaft waren unbeschreiblich groß.“

1980 schließlich „wurde ich mit der gesamten Familie aus dem Land geworfen“, wie Dáša Vokatá es nennt. Im Zuge der Polizeiaktion „Asanace“ verlor sie die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft und wurde ins Exil nach Österreich geschickt. Der damalige Bundeskanzler Bruno Kreisky hatte allen Unterzeichnern der Charta 77 Asyl versprochen. Für Vokatá begann ein anderes, neues Leben. „Meine Mutter und meine Großeltern waren unglücklich und hoffnungslos. Sie dachten, dass sie mich und meine Kinder nie wiedersehen werden.“ Sie sollten Recht behalten. Vokatá hält kurz inne. Die Großeltern haben sich kurz nach ihrer Emigration das Leben genommen.

Der Underground lebt fort
Dáša Vokatá bekommt in Österreich Asyl und arbeitet in einer Wiener Grafikwerkstatt. Das „Nachtasyl“, eine Kneipe in Wien, gegründet ebenfalls von einem Unterzeichner der Charta 77, wird ihr neuer Zufluchtsort. Dort lebt der tschechoslowakische Underground weiter, die Emigranten veranstalten Konzerte und bilden eine starke Gemeinschaft, der Zusammenhalt ist groß.

Doch das änderte sich schlagartig: „Nach der Revolution war alles anders, die Situation war nicht einfach für mich“, erinnert sich Vokatá. Viele Liedermacher verließen ihr Exil und sangen in der Heimat weiter. Die starke Gemeinschaft löste sich komplett auf.

„Mein erster Gedanke war: Der Kampf hat sich gelohnt, ich will zurück nach Prag“, sagt Vokatá. Sie hätte ihr Leben gerne dort weitergelebt, wo sie es 1980 verlassen hat. Ihre beiden Kinder, zu diesem Zeitpunkt bereits in der Pubertät, wollten jedoch nicht aus Wien weg, sie wären in Tschechien fremd gewesen. Zudem war sie zu diesem Zeitpunkt noch staatenlos.

Wäre sie mit ihrem Asylpass ausgereist, hätte sie nicht mehr nach Österreich zurückkehren können. Doch das wollte und konnte Vokatá ihrer Kinder zuliebe nicht. „Ich bin in Österreich geblieben. Für mich war das alles sehr traurig.“ Um ausreisen zu können, beantragte sie stattdessen die österreichische Staatsbürgerschaft, die sie ein halbes Jahr später auch bekam.
Doch auch die erste Reise in die freie Tschechoslowakei hatte einen unerwartet traurigen Anlass. Dášas Mutter hatte das lange Warten auf die Rückkehr ihrer Tochter nicht mehr ausgehalten. Kurz nach der Wende beging auch sie Selbstmord. Über Schuldgefühle spricht Vokatá nur ungern. Schon eher über den Dichter Ivan Martin Jirous, genannt Magor, eine zentrale Figur des tschechischen Underground, mit dem sie ab 1990 bis zu seinem Tod zusammenlebte.

Sie pendelte zwischen Wien und Jirous’ Bauernhof in Tschechien. Als er 2011 starb, endet für sie nicht nur eine Ära, sie stürzte in ein tiefes Loch, wie sie es selbst beschreibt. „Zum zweiten Mal wurde mir meine Heimat genommen“, sagt Vokatá. Die beiden waren nicht verheiratet, sie konnte nicht auf dem Bauernhof bleiben.

Heute ist Dáša Vokatá viel unterwegs. Das Leben in Tschechien verfolgt sie noch immer. Es macht sie sprachlos, dass sich vor allem eines nicht geändert habe: „Viele Politiker haben keine Moral, das ärgert mich.“ Derzeit tritt sie mit ihrem neuen musikalischen Partner, dem bekannten Schauspieler Oldřich Kaiser auf. Zuhause ist sie überall, wohl fühlt sie sich vor allem auf Reisen. „Heimat ist für mich überall dort, wenn ich mit jemandem zusammen bin, den ich gerne habe.“

Dieser Artikel erschien zuerst auf jádu, dem deutsch-tschechischen Onlinemagazin des Goethe-Instituts Prag | jadumagazin.eu