„Der Zauber des Ungewollten“
Ein Gespräch mit Tomáš Sedláček über „Die Ökonomie von Gut und Böse“ und eine unbekömmliche Safran-Suppe
17. 10. 2012 - Text: Tatyana SynkovaText: Tatyana Synkova; Foto: APZ
Tomáš Sedláček – Makroökonom der größten tschechischen Bank ČSOB, Mitglied im Nationalen Wirtschaftsrat, einstiger Berater von Präsident Václav Havel, Hochschullehrer an der Karls-Universität und Kolumnist – plädiert in seinem Buch „Die Ökonomie von Gut und Böse“ für ein neues Verständnis von Wirtschaft: weg von Formeln und mathematischen Modellen hin zu einer ethischen Auffassung. Am vergangenen Donnerstag ist er dafür im Rahmen der Frankfurter Buchmesse mit dem „Deutschen Wirtschaftsbuchpreis 2012“ ausgezeichnet worden. Laut Jury rege das Buch zum Überdenken unseres Wirtschaftssystems an. Wie ein solches ohne Wachstumsglaube und Verschuldungspolitik aussehen und funktionieren kann, darüber sprach Tatyana Synkova mit dem 35-Jährigen in seiner Wohnung auf der Prager Kleinseite.
Herzlichen Glückwunsch zum Deutschen Wirtschaftsbuchpreis! Was bedeutet Ihnen diese Auszeichnung?
Sedláček: Für mich bedeutet das natürlich sehr viel. Ich war wirklich überrascht, dass die tschechische humanitäre Denkweise auf so viel Interesse und so eine große Leserschaft stößt. Dass nicht von oben herab geschaut wurde, auf einen Text von irgendeinem Wirtschaftswissenschaftler aus Mittel- beziehungsweise Osteuropa. Das hätte mich nicht gewundert, denn nationale Vorurteile gibt es bei uns in Tschechien ja auch. Mit tschechischer Immunität gegenüber Ideologien oder einer kritischen Betrachtungsweise haben wir bekanntlich noch nicht so viel Erfahrung, schließlich bauen wir das neue System auch erst seit etwas mehr als 20 Jahren auf. Es gibt einem tschechischen Ökonomen eine andere Sicht auf die Dinge, wenn er sieht, wie sie entstehen, sich entwickeln und ihm offenbar wird, was wichtig ist und wir vorher noch nicht wussten.
Die Jury zeichnete sie aus, weil Sie dazu anregen würden, „Wirtschaft neu zu denken“. Tun Sie das wirklich?
Sedláček: Natürlich versuche ich die Wirtschaft anders zu sehen, also nicht als mathematisch-allokative Wissenschaft, sondern als eine Geisteswissenschaft. Ich habe auch einige Zeit analytisch gearbeitet, mit Zahlen und Modellen. Aber abends saß ich dann da und habe nur Zahlen aus dem Ärmel geschüttelt und mich gefragt, warum aus manchen Sachen Zahlen gemacht werden und aus anderen wiederum nicht, welche Argumente in der Wirtschaft erlaubt sind und welche nicht. Ich habe auch darüber nachgedacht, wie wir darüber nachdenken.
Woher kommt der Gedanke der Rationalität, der Solidarität, woher kommt der Gedanke, dem Schwächeren zu helfen, obwohl die angeborene Reaktion wäre, dem Stärkeren zu helfen, wenn man den Kontext nicht kennt. Woher kommt diese Intuition? So hab ich angefangen mich in dieser thematischen Peripherie zu bewegen bis ich feststellte, dass sie gar nicht nebensächlich ist, sondern sehr zentral und eher die mathematisch-allokative Denkweise peripher ist und im Prinzip eine Ausklammerung der Philosophie. Man glaubt heute oft, dass Philosophie, Ethik, Theologie und die Kultur das „Icing on the Cake“, also das Sahnehäubchen sind. Dabei ist es genau umgekehrt.
Alle klassischen Wirtschaftswissenschaftler haben ohne Zahlen geschrieben. Das ist das Gebiet, das mir wichtiger und interessanter erschien und überraschenderweise auch verständlicher. Ich wollte eigentlich kein verständliches Buch schreiben, ich wollte es verkomplizieren durch philosophische und theologische Ansichten. Ich wollte ein kompliziertes Buch für eine kleine Leserschaft verfassen, und musste feststellen, dass Menschen, die mit Wirtschaft nichts zu tun haben, auf einmal zu mir kamen und sagten, dass es einfach zu verstehen sei. Und wie es der „Zauber des Ungewollten“ so an sich hat, ist aus einem geplant komplizierten ein populäres Buch geworden. Das hat mich am Anfang schon sehr gestört.
Frankfurt als wichtigster Finanzplatz Deutschlands gilt auch als Hochburg der Occupy-Bewegung. Auch während der Buchmesse fanden Demonstrationen gegen das Finanzsystem und den Einfluss der Wirtschaft auf die Politik statt. Wie stehen Sie solchen Protesten gegenüber?
Sedláček: Die Beweggründe finde ich nachvollziehbar. Und ich bin froh, dass wir diese Bewegung haben. Ihr ist es gelungen, die Argumentation auf die Straße zu bringen, mit der sich auch viele Ökonomen beschäftigen. Es gibt sehr kritische Argumente gegen die jetzige Wirtschaft. Aber Wirtschaft kommt aus der Selbsthinterfragung. Das ist das Schöne an der Ökonomie, keine andere Wissenschaft entsteht aus so tiefer Auseinandersetzung mit sich selbst. Man kommt an den Punkt, an dem man sagt, so geht das nicht weiter, es muss etwas passieren, wir nehmen eine Teilschuld an und arbeiten daran. Ich denke, die Occupy-Bewegung will der Wirtschaft die Seele wiedergeben. Unser System ist so eingerastet und unnahbar, dass die Menschen das Gefühl haben, das System dient nicht ihnen, sondern sie ihm. Aus ihm ist sozusagen ein Zombie geworden, der super funktioniert, effektiv und arbeitsam ist. Aber es geht nicht darum, dass er funktioniert, sondern wie. Es geht nicht um Effizienz, sondern um die Seele der Sache. Das Problem ist, dass das, was uns die Krise gebracht hat, die Wirtschaft ist und das, was uns dort wieder herausbringen muss, ebenfalls die Wirtschaft ist.
Zurück zu Ihrem Buch und seinem Titel, dem wohl größten Thema: Was ist für Sie „gute“ und was „böse“ Ökonomie?
Sedláček: Die Wirtschaft hat immer beide Komponenten, sie beinhaltet sowohl das eine als auch das andere. Die heutige Debatte, die einst eine theologische oder philosophische war, erscheint jetzt wirtschaftlich, beinhaltet aber immer auch eine Debatte um die Gerechtigkeit. Nehmen wir das Beispiel Griechenland, es sieht nach einer wirtschaftlichen Debatte aus, aber es ist auch die Weiterführung der tausend Jahre alten christlichen Debatte „Law versus Grace“ – Recht gegen Gnade. Was gilt in unserer Gesellschaft als Recht und was als Gnade? Welche Regeln kennt Gnade? Die Antwort lautet: keine! Das ist ein Oxymoron. Sollen wir Griechenland „begnadigen“ oder sollen wir nach dem Gesetz handeln?
Sogar beim „klassischen Liberalen“ Milton Friedman findet sich die Einsicht, dass wirtschaftliches Handeln nur in Abhängigkeit von ethischen Regeln funktionieren kann. Warum weiten Sie dieses Gebot auch auf wirtschaftliches Denken aus?
Sedláček: Wenn die Finanzkrise ein Fall á la Madoff (ein US-amerikanischer Milliardenbetrüger, Anm. d. Red.) wäre, also gänzlich unethisch, könnte man das Problem schnell lösen. Es ist aber eher andersrum, dass Menschen, die sehr gebildet , qualifiziert und ethisch nach den Regeln des Systems gehandelt haben, in die Krise geraten sind. Nehmen wir das Beispiel Irland: Banker, die auf den besten Schulen waren, in einem sehr katholischen Land aufwuchsen und keiner den anderen vor dem Gesetz betrog, stürzten das Land dennoch in die Krise. Wir haben ein System aufgebaut, das zusammenbricht, wenn es nicht wächst. Doch die Ökonomie kann nicht nur wachsen. Solange wir ein System so aufbauen, dass es explodiert, wenn es stehen bleibt, ist es wie in ein Auto zu steigen, das nicht anhalten kann. Das ist der Diskurs, den ich jetzt auslösen will. Wir müssen endlich akzeptieren, dass das System nicht immer wachsen kann. Wir brauchen Stabilität statt Wachstum. Die Verantwortung von Politikern und Ökonomen ist es nicht, eine schnelle prosperierende Wirtschaft zu schaffen, sondern eine stabile – das ist uns bis heute nicht gelungen.
Worin sehen Sie das Hauptproblem der europäischen Wirtschaftskrise?
Sedláček: Das ist keine europäische Krise, es ist eine Krise der westlichen Welt. Sie kam aus den USA und erfasste dann Großbritannien, Island und Ungarn. Alles wohlgemerkt Länder, die den Euro nicht haben. Was die Schulden angeht, ging es den USA oder Japan viel schlechter. Ich würde eher von einer Krise oder einem Test des europäischen Zusammenhaltes sprechen. Die Handlungsfähigkeit Europas wird auf die Probe gestellt.
Hätte die gegenwärtige Krise, in der sich Europa und im speziellen der Euro befindet, also verhindert werden können?
Sedláček: Es wäre möglich gewesen, sie abzuschwächen, wenn wir einen Puffer für schlechte Zeiten angelegt hätten. Man weiß schließlich nie, was kommt. Krisen kommen unerwartet. Ich bleibe bei der Auto-Metapher: Wenn ich mit einem mir nicht vertrauten Auto auf unbekanntem Terrain fahre, muss ich vorsichtig sein. Das waren wir nicht. Wir hätten in guten Zeiten Schulden abzahlen sollen. Das haben wir nicht getan, sondern uns weiter verschuldet. Wir haben den Safran einfach so verstreut, anstelle ihn für schlechte Zeiten anzusparen. Wir haben uns eine Safran-Suppe gekocht. Deswegen bricht die Wirtschaft zusammen; nicht weil sie nicht wächst, sondern weil sie verschuldet ist.
Zwischen 2001 und 2003 waren Sie ökonomischer Berater von Präsident Václav Havel. Inwieweit hat Sie die Zusammenarbeit geprägt?
Sedláček: Sehr stark. Ich war dort damals einer der Jüngsten, es war eine sehr gute Schule für mich. Diese Zeit hat mich gelehrt, Dinge beratend zu vermitteln. Wenn ich den Präsidenten briefen musste, war keine Zeit für wirtschaftliche Argumentation. Havel war kein Ökonom, er war Philosoph und Humanist. Ich habe gelernt, Dinge anders zu sehen und sie einfach, aber nicht zu einfach zu vermitteln. Der Ökonomie-Jargon ist zwar ein sehr schöner, aber ihn verstehen nicht viele. Ich bin in einer Ökonomen-Familie aufgewachsen, für mich war das bis dahin selbstverständlich.
Haben Sie vielleicht deswegen vorchristliche Texte und Mythen zur Ergründung der Ökonomie gewählt? Ihrem Buch zufolge muss man in die Bibel oder Thora schauen, Homer und Hesiod lesen, um unser heutiges Verständnis von Wirtschaft in seiner Gänze zu begreifen.
Sedláček: Genauso ist es, denn meiner Meinung nach beschreiben sie ähnliche Ereignisse wie wir heute mit Zahlen, nur eben vereinfacht in Geschichten und Bildern. Dafür braucht man kein Modell des „homo oeconomicus“, keine ökonometrischen Werte, noch nicht einmal die Ökonomie als solche, sondern Geschichten, die den Menschen die Weisheit vermitteln. dass man – wenn es einem gut geht – sparen und sich nicht im Wald der Zahlen verlaufen soll. Man sollte diese Werke lesen, um keine Gesellschaft aus Fachidioten zu schaffen. Natürlich kann die Ökonomie nicht das ganze Leben erklären, aber fast.
Ihr neues Buch trägt den Titel „Bescheidenheit – Für eine neue Ökonomie“. Ist das die Lösung allen Übels?
Sedláček: Eine Lösung allen Übels gibt es nicht. Wir haben die Ökonomie überschätzt und haben einen Fetisch aus ihr gemacht. Aristoteles hat gesagt: „Alles Gute, das man übertreibt, wird schlecht. So auch jede Tugend, wenn man sie überspannt.“ Sei es die Mutterliebe, die Milde, die Sparsamkeit oder das ökonomische Denken. Die einzige Tugend, die man nicht übertreiben kann, ist die Bescheidenheit. Und wir sind einfach nicht bescheiden genug.
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