Der zweite Versuch
Seit Oktober hat Tschechien keine Regierung. Wahlsieger Babiš baut nun auf die Sozialdemokraten. Doch der mögliche Juniorpartner steht vor einem „grundsätzlichen Problem“. Einiges erinnert dabei an die Lage der SPD in Deutschland
25. 2. 2018 - Text: Josef Füllenbach, Titelfoto: Petr Bednář
Die Tschechen haben Ende Oktober 2017, einen Monat später als die Deutschen, ein neues Parlament gewählt. Bis heute hat Tschechien keine neue Regierung, der die Mehrheit der Abgeordneten das Vertrauen ausgesprochen hat: Die erste nach der Wahl vom Präsidenten ernannte Minderheitsregierung unter Andrej Babiš, der die Wahlen mit der von ihm geführten Bewegung ANO haushoch gewonnen hatte, fiel Mitte Januar bei der Vertrauensabstimmung durch. Seither regiert Babiš nur geschäftsführend. Und es ist kaum abzusehen, wann dieser Zustand beendet werden kann. Die Lage gleicht in einigen Punkten derjenigen in Berlin, in anderen ist sie davon grundverschieden – auf jeden Fall ist sie kompliziert.
Im neuen Parlament, in dem sich neun Fraktionen die insgesamt 200 Sitze teilen, fehlen Babišs ANO, die 78 Mandate errungen hat, 23 Sitze zur Mehrheit (mehr dazu im Kommentar „Protest an der Macht“). Die zweitgrößte Fraktion ist mit 25 Mandaten die der Bürgerdemokraten (ODS), einst vom heutigen Ex-Präsidenten Václav Klaus gegründet, der aus seinem Institut heraus gelegentlich mit giftigen Pfeilen die Prager politische Bühne aufschreckt. Mit der ODS käme zwar eine knappe Mehrheit zustande, aber die Bürgerdemokraten lehnen eine Koalition mit Babiš strikt ab. Alle anderen im Parlament vertretenen Parteien verfügen über weniger Sitze, so dass Babiš mindestens zwei weitere Parteien für eine Mehrheit benötigt. Doch dazu sind bislang nur die Kommunisten und die am äußersten rechten Rand angesiedelte „Freiheit und direkte Demokratie“ (SPD) von Tomio Okamura bereit.
Babiš schleppt ein Problem mit sich herum. Staatsanwaltschaft und Polizei ermitteln gegen ihn wegen des Verdachts auf Subventionsbetrug, das Parlament hat Babiš zu diesem Zweck die Immunität entzogen. Es geht um etwa 50 Millionen Kronen oder 2 Millionen Euro, die sich Babiš möglicherweise aus Brüsseler Töpfen erschlichen hat. Für den Milliardär und zweitreichsten Tschechen eher nur ein Taschengeld, für Wenzel Normalverbraucher aber eine unvorstellbare Summe. Vor den Wahlen und auch noch danach hatten sich alle Parteien bis auf die Kommunisten und die SPD auf den Standpunkt gestellt, niemanden als Premier akzeptieren zu können, der strafrechtlich verfolgt wird.
Die Wähler haben das offenbar ganz anders gesehen. In dieser Sichtweise hat sie Präsident Zeman ermutigt, der vor den Wahlen erklärt hatte, dass er Babiš, sollte dieser denn die Wahl gewinnen, zum Premier ernennen werde, Strafverfolgung hin oder her. Und Babiš verzichtete im Gegenzug mit seiner populären ANO-Bewegung darauf, für die Präsidentschaftswahlen im Januar einen Kandidaten gegen Zeman aufzustellen, und rief sogar direkt zur Wahl Zemans auf (mehr dazu im Artikel: „Eine Hand wäscht die andere“). Daraus erwächst zwar nicht unbedingt Freundschaft – dazu sind beide viel zu verschieden –, aber eine solide Geschäftsbeziehung schon. Zeman tat seinerseits kund, Babiš nach dem missglückten ersten Versuch erneut zum Premier zu ernennen, mit der Regierungsbildung zu beauftragen und ihm genügend Zeit zu gewähren, die dafür notwendige Unterstützung im Parlament zu organisieren.
Die Sozialdemokraten lehnen Neuwahlen schon allein aus finanziellen Gründen ab – ganz abgesehen von den steigenden Umfragewerten für Babiš.
Inzwischen beginnt die Ablehnungsfront zu bröckeln. Den Sozialdemokraten (ČSSD), die von den Wählern auf ein Drittel ihres früheren Stimmenanteils gerupft wurden und jetzt nicht einmal mehr über ein Fünftel der Sitze von ANO verfügen, kommt plötzlich eine zentrale Rolle zu. Denn sie sind der Wunschpartner von Babiš – nicht, weil beide in der Koalition während der letzten vier Jahre so wunderbar harmoniert hätten, sondern weil die ČSSD aus Babišs Sicht nach ihrem Wahldebakel ein gefügiger Juniorpartner zu werden verspricht und sich andererseits die dezimierten Sozialdemokraten von der Regierungsbeteiligung erhoffen, wichtige Inhalte durchsetzen und so Boden gut machen zu können. Diese Rechnung und Gegenrechnung sind einem Beobachter der deutschen Szene sehr vertraut. Ebenso, wie sehr man sich dabei verrechnen kann, vor allem als Sozialdemokrat.
Doch Zeman hat auf dem ČSSD-Parteitag am 18. Februar öffentlich seinen Segen zu dieser Verbindung gegeben. Sehr gut möglich, dass sein Einsatz für einen zweiten Anlauf von Babiš auf den Regierungssessel letztlich den Ausschlag gibt. Auf ihrem Parteitag wollte die ČSSD nicht nur ihre schwärenden Wunden lecken, sondern in erster Linie zwei Entscheidungen fällen: Wahl einer neuen Führung, denn die alte war im Laufe des Jahres 2017 zerbrochen, und Klärung der Frage, ob die ČSSD in die Opposition gehen oder sich an einer Regierung an der Seite von ANO beteiligen soll. Der frühere Vorsitzende und Premier Bohuslav Sobotka ist übrigens gar nicht zum Parteitag erschienen. Er leckt seine Wunden im Stillen und brauchte sich so die höhnischen Worte Zemans nicht anzuhören, jedenfalls nicht von Angesicht zu Angesicht.
Die Wahl einer neuen Führung gelang nur teilweise. Jan Hamáček, Parlamentspräsident von 2013 bis 2017 (als die ČSSD noch größte Partei war), wurde zum neuen Vorsitzenden gewählt, nachdem er sich gegen sieben Gegenkandidaten durchgesetzt hatte. In der Stichwahl behielt er die Nase nur knapp vorn vor Jiří Zimola, der als Hauptmann der Region Südböhmen wegen einer Hausbauaffäre im April 2017 zurücktreten musste, aber nun mit großer Mehrheit zum Ersten Stellvertreter gewählt wurde. Der restliche Vorstand muss noch bei einer eiligst anberaumten Fortsetzung des Parteitags am 7. April bestimmt werden. Denn die ČSSD ist extrem hoch verschuldet und kann einen Saal samt sonstiger Konferenzfazilitäten nicht mehr einfach auf Verdacht gleich für zwei Tage anmieten. Wegen der knappen Kasse scheut sie auch Neuwahlen wie der Teufel das Weihwasser – ganz abgesehen von den steigenden Umfragewerten für Babiš und stagnierenden für die ČSSD.
Seiner zweiten Aufgabe ist der Parteitag nur leidlich gerecht geworden. Denn nach dem ersten Gespräch (in der deutschen Terminologie war es wohl eine „Sondierung“) zwischen dem Duo Hamáček/Zimola und Babiš in der vergangenen Woche scheint zwar klar zu sein, dass die ČSSD ein Zusammengehen mit ANO anstrebt – ob in einer Koalition, wie von der ČSSD-Führung bevorzugt, oder als Duldung einer ANO-Minderheitsregierung, steht aber noch dahin. Jedenfalls muss die Alternative zu beidem, das Schreckbild einer Minderheitsregierung unter Babiš, geduldet von den Kommunisten und dem Rechtsausleger Okamura (dessen Partei der derzeitige geschäftsführende ANO-Justizminister Pelikán als „faschistisch“ bezeichnet), auf Hamáček und Genossen nachhaltigen Eindruck hinterlassen haben.
Und wem dies noch nicht gereicht hat, der wird die Ohren gespitzt haben, als Zeman seinen früheren Parteifreunden die Altersweisheit predigte, „wenn ihr nicht dem Vergessen anheimfallen wollt, dann arbeitet. Und arbeiten könnt ihr nur dann, wenn ihr euch in irgendeiner Form, in irgendeiner Konfiguration an der Regierungstätigkeit beteiligt.“ Kürzer und prägnanter stellte einst Franz Müntefering (vor seiner Wahl zum SPD-Vorsitzenden 2004) fest: „Opposition ist Mist!“ Und gleich im Anschluss winkte Zeman mit einem Zaunpfahl in den Saal: Babiš habe „derzeit zwei weitere Partner …, die ihm völlig zu einer Mehrheit im Parlament ausreichen.“ Mit anderen Worten: Beeilt euch! Tatsächlich hat es den Anschein, dass Babiš die Okamura-Karte nur hin und wieder vorzeigt, um die ČSSD zu disziplinieren. Sollte er sie ausspielen, dann verlöre er gleichzeitig allen Kredit jenseits der westlichen Grenzen.
Aber Zeman hatte noch einen anderen Ratschlag: „Drängt euch nicht in die Regierung, verlangt nicht nach Ministersesseln, mit den 15 Abgeordneten wäre das etwas komisch. Verlangt Posten für stellvertretende Minister, für eure Fachleute …!“ Die ČSSD soll also nach Zemans Auffassung mit Babiš eine Vereinbarung über die Unterstützung einer Minderheitsregierung abschließen und sich dafür eine Reihe wichtiger Funktionen außerhalb des Kabinetts und gewisse programmatische Zugeständnisse einhandeln. Auf ähnliche Weise hatte sich Zeman vor 20 Jahren selbst als Premierminister einmal die parlamentarische Mehrheit für ein Minderheitskabinett der ČSSD gesichert. Damals war es Klaus’ ODS, die den „Oppositionsvertrag“ unterschrieb und dafür außer mit zahlreichen Posten in öffentlichen Institutionen auch mit dem Parlamentsvorsitz belohnt wurde, auf dem Klaus selbst Platz nahm.
Hamáček gewährte an diesem Wochenende gleich zwei Tageszeitungen ganzseitige Interviews, der „Volkszeitung“ („Lidové noviny“ – sie gehört zu Babišs Imperium) und der sozialdemokratisch orientierten „Právo“. In beiden Interviews versuchten die Redakteure vergeblich, von Hamáček eine klare Antwort auf die naheliegende Frage zu bekommen, ob denn nun die ČSSD bereit sei, entgegen früheren Festlegungen in eine Regierung mit dem unter Strafverfolgung stehenden Babiš als Premier einzutreten oder nicht. Die Antwort war immer wieder: „Die Beteiligung eines strafrechtlich verfolgten Politikers an der Regierung ist ein grundsätzliches Problem.“ Und schon ist das Hintertürchen entsichert: Dieses „grundsätzliche Problem“ könnte vielleicht überwunden werden, wenn Babiš der ČSSD in ihren programmatischen Zielen hinreichend entgegenkäme.
Ob die ČSSD jedoch in diesem Falle die Hürde „Strafverfolgung“ überspringt und Babiš als Premier akzeptiert, darüber soll am Ende ein Referendum unter allen Parteimitgliedern entscheiden. Der Parteitag hatte an ANO appelliert, „keine beschuldigten oder strafrechtlich verfolgten Personen als Regierungsmitglieder zu nominieren und so den Weg für die Bildung einer stabilen Regierung freizumachen.“ Die ČSSD-Genossen werden die möglichen Folgen genau studieren, wenn jemand sein Wort bricht, unter einer bestimmten Person nie in ein Kabinett einzutreten (selbst wenn diese Person sich nichts Strafwürdiges hat zuschulden kommen lassen). Babiš seinerseits bestätigt allen, die es hören wollen, dass er gar nicht daran denke, ins zweite Glied zurückzutreten.
Nach 32 Jahren wird Zeman der erste Staatspräsident sein, der einen Parteitag der Kommunistischen Partei besucht.
Die Sozialdemokraten sind in einer wenig beneidenswerten Lage. Denn in vieler Hinsicht waren die Voraussetzungen für den „Oppositionsvertrag“ von 1998 zwischen Zeman und Klaus andere als heute für ein Zusammenwirken von Babiš und ČSSD. Denn die beiden Letzteren brauchen für eine Mehrheit im Parlament noch einen Dritten im Bunde, und der steht in Gestalt der Kommunisten (KSČ) bereit. In diesen Tagen gedenkt Tschechien des kommunistischen Putsches vom Februar 1948, vor genau 70 Jahren. Da muss es den Sozialdemokraten besonders peinlich sein, den Schritt zu einer bislang noch verpönten Zusammenarbeit mit den ungewendeten Kommunisten auf der Ebene der Zentralregierung zu tun.
Die Alternative wäre noch weniger vertretbar, nämlich mit den äußersten Rechten von Okamura eine Vereinbarung zu suchen; die kämen sogar für Babiš allenfalls als Notlösung in Frage. Zeman sieht freilich kein Problem darin, die Kommunisten mit ins Boot zu holen. Er hat die Einladung schon angenommen, in einigen Wochen auch auf deren Parteitag aufzutreten. Nach 32 Jahren wird Zeman somit der erste Staatspräsident sein, der einen Parteitag der KSČ besucht. Zuletzt war es im Jahre 1986 Präsident Gustav Husák, doch der war gleichzeitig auch Parteivorsitzender, er musste also hin.
Babiš präferiert, unterstützt von Zeman, eine Minderheitsregierung seiner ANO – toleriert auf der Basis von noch auszuhandelnden inhaltlichen und eventuell personellen Zugeständnissen durch die ČSSD und KSČ. In einer solchen im Grunde einfarbigen Regierung kann er am ehesten das tun, was er schon vor seinem Gang in die Politik angekündigt hat: die Regierung wie eine Firma führen. Eine Koalition mit der ČSSD, geduldet von der KSČ, wäre ihm wohl auch recht. Hamáček zöge eindeutig eine Koalition ANO/ČSSD vor. Er muss aber Antworten auf zwei Fragen finden: Wie kann er es den Parteimitgliedern schmackhaft machen, unter einem Premier Babiš in der Regierung zu sitzen? Und welche Bedingungen der Kommunisten kann die ČSSD gegebenenfalls akzeptieren, damit diese eine solche Koalition unterstützen? Manche werden sich mit Blick auf den Februar 1948 fragen: Gibt es überhaupt Bedingungen der Kommunisten, die man akzeptieren könnte?
Wie die tschechische Presse die Regierungsbildung beurteilt, lesen Sie hier:
Von Stillstand bis Harakiri
„Wie 1938“
„Unterdurchschnittlich regiert“