Die Angefeindeten lernen zu demonstrieren
In Ústí nad Labem bieten Aktivisten und Roma dem ersten großen Neonazi-Aufmarsch dieses Jahres die Stirn
7. 5. 2014 - Text: Nancy WaldmannText und Foto: Nancy Waldmann
Die Klišská-Straße ist der neuralgische Punkt am Tag der Arbeit in Ústí nad Labem. Drei Häuser im oberen Teil der Straße werden von Roma-Familien bewohnt, sie liegen nahe der Demo-Route der Neonazis. Gustav, genannt „Rübezahl“ und Vater von zehn Kindern, steht vor seinem Haus, zusammen mit Cousins und Cousinen, die mit ihren Familien ebenfalls dort wohnen. Mit den Armen umklammert er die Beine seines vierjährigen Sohnes, der auf seinen Schultern sitzt und diesen Platz heute nicht mehr verlassen wird. Nein, er habe keine Angst vor den Rechtsradikalen. Skeptisch blickt Rübezahl auf die jungen Antifa-Aktivisten, die aus Prag und aus Sachsen in seine Straße gekommen sind, um Leute wie ihn zu beschützen.
Zwei Welten prallen aufeinander. Die Aktivisten teilen vegane Suppe aus, die Rübezahls Kindern nicht schmeckt. Sie haben Kisten mit gebrauchter Kleidung mitgebracht, aber Rübezahl nimmt nichts, auch wenn seine Familie bettelarm ist. „Ich schäme mich“, sagt er.
Die Konfrontationslinien verlaufen am 1. Mai zwischen Neonazis und Angefeindeten, zwischen Hass und Mut. Die Stadt ist in politische Zonen aufgeteilt. Das Zentrum hat sich die rechtsextremistische DSSS reserviert, die offiziell gegen die EU demonstriert. Nicht zufällig haben sich die Neonazis die nordböhmische Stadt ausgesucht. Geschätzte 15.000 Roma leben hier. Es ist der erste große Neonazi-Marsch des Jahres, nachdem Anti-Roma-Demonstrationen im Sommer 2013 fast im Wochen-Takt stattfanden und mehrmals in Pogromversuche ausarteten. Nur die Polizei konnte Schlimmeres verhindern.
Straßenfest gegen Roma-Hatz
Die andere Zone rund um das von Roma bewohnte Armenviertel Předlice und die Klišská-Straße haben Aktivisten des Bündnisses „Blokujeme“ („Wir blockieren“) reserviert, das sich im vergangenen Jahr um die Bürgerinitiative „Konexe“ formiert hat. Es versammelt nicht nur „Linksextremisten“, wie etwa die Nachrichtenagentur ČTK schreibt, sondern auch Pfarrer, Roma aus den Armenvierteln, Studenten. Was sie vereint, ist die Idee, dass man den Neonazi-Märschen etwas entgegensetzen muss – gemeinsam mit den Roma aus den bedrohten Vierteln.
An diesem Tag organisieren sie neben der Häuserwache bei Rübezahl auch ein Straßenfest in Předlice, damit die vielen Kinder etwas anderes zu Gesicht bekommen als Polizisten in schwerer Montur, die ihr Viertel umstellen. 700 Sicherheitskräfte sichern in Ústí die Zone der Neonazis und die ihrer Gegner.
Die Strategie, eine Gegenöffentlichkeit herzustellen, ist neu in Tschechien. Jahrelang hatte die Staatsagentur für soziale Integration den Roma geraten, an Demo-Tagen die Stadt zu verlassen und die Sache der Polizei zu überlassen. „Die Roma müssen aus ihrer Opferrolle heraustreten“, sagt dagegen Ivanka Čonková, eine der Aktivistinnen von „Blokujeme“. Das ist kein einfaches Unterfangen.
Vor Rübezahls Haus kündigt ein Aktivist die Gegendemo an. Rübezahl wird sich nicht anschließen, er müsse auf die Kinder und das Haus aufpassen, sagt er. Viele Roma harren lieber still aus. Er wolle nicht von seiner Lehrerin im Fernsehen gesehen werden, sagt Rübezahls ältester Sohn. Als die Aktivisten losziehen Richtung Stadtzentrum, verharren die Roma zunächst in der Klišská-Straße.
Rübezahls Schwägerin Iveta, die extra aus einem entlegenen Stadtteil gekommen ist, bewegt sich schließlich doch mit einigen Frauen aus dem Haus die Straße hinunter. An der Kreuzung geleitet sie das „Anti-Konflikt-Team“ der Polizei zurück. „Wir Roma sind hier eingesperrt wie Hunde“, regt sich eine Nachbarin aus der Straße auf. Die Stimmung unter den Frauen ist angespannt.
Das Unbehagen bleibt
Plötzlich nähert sich der Demonstrationszug vom Straßenfest im Armenviertel Předlice, dahinter ein hupender Autokorso. „Wir sind Menschen, wir wollen hier leben!“, schreit ein Rom ins Megafon. Wieder will das Anti-Konflikt-Team sie aufhalten. Aber im Rücken der Polizisten taucht ein zweiter Zug von Antifaschisten auf. Johlen. Die beiden Demos stürmen bis zur Polizeisperre, unter ihnen Iveta und ihre Cousinen. Während auf der anderen Seite die Neonazis vorbeimarschieren, rufen die Gegendemonstranten „Stoppt den Rassismus!“.
Der Plan der Aktivisten geht auf. „Wir lehren euch das Demonstrieren!“, ruft einer von ihnen Iveta taumelnd zu. 180 Roma seien dabei gewesen, sagen die Aktivisten. „Das scheint wenig, aber für hiesige Verhältnisse war es beachtlich“, sagt der Menschenrechtsaktivist Markus Pape, der seit Jahren die Anti-Roma-Demos in Tschechien begleitet. Es könne ein erster Schritt sein, so Pape, dass Roma auch in anderen Fragen ihren Willen äußerten. Und das könne helfen, soziale Probleme vor Ort lösen.
Als sich die Spontandemo auflöst, wartet oben an der Kreuzung Rübezahl mit seinem Sohn auf den Schultern. Die Aktivisten wollen den Erfolg begießen. „Und wir?“, fragt er. Die Bewohner der Klišská-Straße trauen dem Frieden nicht. Später am Abend taucht ein grölendes Dutzend Neonazis vor Rübezahls Haus auf. Die Polizei nimmt sie fest.
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