„Die Beschäftigung mit dem Stalinismus war fällig“
Der österreichische Schriftsteller Josef Haslinger über seinen Roman „Jáchymov“, der eine vergessene Geschichte aus der stalinistischen Tschechoslowakei erzählt
7. 5. 2013 - Interview: Ivan Dramlitsch
Josef Haslinger (57) erzählt in seinem Roman die Geschichte des Eishockeytorwarts Bohumil Modrý. Mit der tschechoslowakischen Eishockey-Nationalmannschaft holte Modrý 1947 und 1949 den Weltmeister-Titel, 1948 bei den Olympischen Spielen in St. Moritz die Silber-Medaille. Modrý galt damals als weltbester Torwart. Vor der Weltmeisterschaft 1950 in London wurden 13 Spieler des Nationalkaders inhaftiert und in einem politischen Schauprozess wegen Spionage und Hochverrat zu Haftstrafen von drei Monaten bis 15 Jahren verurteilt, weil sie angeblich geplant hatten, aus London nicht mehr zurückzukehren. Modrý bekam 15 Jahre, wurde nach fünf Jahren begnadigt. Er starb 1963 im Alter von 46 Jahren an Leukämie, eine Folge der Zwangsarbeit in den Uranbergwerken von Jáchymov. Am Rande der deutsch-tschechischen Autorentagung in Hradec Králové sprach PZ-Mitarbeiter Ivan Dramlitsch mit Josef Haslinger über seinen aktuellen Roman.
Wie sind Sie zu diesem Stoff gekommen?
Haslinger: Der Stoff ist eher zu mir gekommen. Ich lernte Blanka Modrá, die Tochter von Bohumil Modrý, 1988 im Rahmen eines Theaterprojekts in Wien kennen. In den Probepausen begann Blanka Modrá, mir die Geschichte ihres Vaters zu erzählen; damals kam ich das erste Mal damit in Berührung. Ich hatte zuvor nie etwas davon gehört, das war vollkommen neu für mich. Allerdings war es damals für mich ausgeschlossen, darüber zu schreiben.
Wann haben Sie ihre Meinung geändert?
Haslinger: Seit 1996 bin ich in Leipzig tätig, seitdem fahre ich regelmäßig durch Tschechien. Irgendwann habe ich mir gesagt: Ich will hier nicht nur durchfahren, sondern das Land auch kennenlernen. Also habe ich Stopps eingelegt und mir verschiedene Orte angesehen, Theresienstadt, Jihlava, natürlich Prag. Dann fing ich auch an, Umwege zu fahren. Einmal fuhr ich von Chemnitz übers Erzgebirge und kam nach Jáchymov. Damals wusste ich überhaupt nichts über die Geschichte dieses Ortes. Ich schaute mir also das Museum an, wo der Silberbergbau und die Geschichte des Kurbetriebs ausführlich dokumentiert waren. In einem Nebenraum war eine Sonderausstellung, man sah Totenscheine, Uniformen, Modelle eines Lagers, alles nur auf Tschechisch beschriftet, ich verstand nicht viel. In Wien fragte ich Blanka Modrá, was das denn dort gewesen sei. Sie sagte: Da war mein Vater inhaftiert. Da wurde die Geschichte interessant, und ich fing an zu recherchieren.
Die Doppelgesichtigkeit Jáchymovs – gleichzeitig Heilbad und Gulag – ist einerseits makaber, aber literarisch bestimmt sehr reizvoll.
Haslinger: Ja. Diese Widersprüchlichkeit hat mich an diesem Stoff angezogen. Und ich kam bei meinem Besuch in Jáchymov auf die Idee, wie ich darüber schreiben könnte. Indem ich selber recherchiere, mir selber den Stoff aneigne und gleichzeitig eine Figur schaffe, die genau das macht. Dadurch bleibt der Blick von außen gewahrt. Das war wichtig für mich.
Die Verhaftung und Verurteilung Bohumil Modrýs ist in ihrem Buch sehr faktenreich und detailliert beschrieben. Auf welche Quellen konnten sie zurückgreifen?
Haslinger: Blanka Modrá hatte Zugang zu den Prozessakten und hat alles kopiert, was ihren Vater betraf. Daraus konnte ich schöpfen. Dann natürlich auch Blankas Auskünfte, die sich in hohem Maße auf das stützten, was ihre Mutter ihr erzählt hat. Und natürlich Berichte anderer Beteiligter wie Zábrodský und Bubník, deren Aussagen die Vorgänge etwas anders darstellen. Das alles habe ich aufgenommen und versucht, mir ein Bild zu machen. Trotzdem bleiben immer noch Lücken und Unklarheiten.
In ihren bisherigen Büchern war der Nationalsozialismus oft ein wichtiges Thema. Kann man sagen, dass es für Sie jetzt an der Zeit war, sich auch mit dem Stalinismus zu beschäftigen?
Haslinger: Ja. Das war wirklich fällig. Ich habe ja, seitdem ich in Leipzig bin, mit DDR-Schicksalen zu tun, war konfrontiert mit Geschichten aus dem Leben im Kommunismus. Da fing ich an, mir Fragen zu stellen – wie hätte ich mich wohl verhalten, wenn ich hier gelebt hätte? Wo wäre ich gelandet? Das beschäftigte mich. Und ich fragte mich, wie es wohl war, als unsere Nachbarländer vom Stalinismus beherrscht wurden.
Bohumil Modrý gerät als Unschuldiger in die Mühlen der stalinistischen Justiz und wird darin zermalmt. Kann man diese obsessiv-paranoide, gnadenlose Vernichtung von Individuen noch rational erklären oder ist das „stalinistischer Irrsinn“?
Haslinger: Ich würde nicht von Irrsinn sprechen, damit macht man es sich zu leicht. Paranoide Züge hatte das aber schon. Das ist die Paranoia der Machthaber. Worum ging es denn letztlich? Die hatten einfach Angst, die Eishockeymannschaft könnte abhauen und würde damit das Regime, dessen Aushängeschild sie sein sollten, gewaltig blamieren. Das ist auch ein Grund, warum man sie nicht hat nach London reisen lassen.
In einer tschechischen Rezension wurde ihr Buch als ein „harter Stockschlag gegen die Ostalgie“ bezeichnet.
Können Sie damit etwas anfangen?
Haslinger: Das ist in Ordnung. Das Buch wird in Tschechien sicherlich anders wahrgenommen als in Deutschland oder Österreich. Ich nehme das interessiert zur Kenntnis. Uns – damit meine ich die westeuropäische Linke, zu der ich mich zähle – tut es jedenfalls gut, wenn wir uns damit auseinandersetzen, was im Nachbarland wirklich passiert ist. Dafür hat sich ja niemand interessiert. Es ist schon erstaunlich: Da „verschwindet“ die tschechoslowakische Eishockey-Nationalmannschaft, und man lässt das einfach zu. Ich bin bei meinen Recherchen jedenfalls auf keine Reaktionen oder gar Proteste gestoßen.
Die Figur des Verlegers Anselm Findeisen ist ein DDR-Emigrant. Warum haben Sie ihm diese Biografie gegeben?
Haslinger: Einerseits um zu zeigen, dass Ostblock nicht einfach Ostblock war, dass es verschiedene Facetten gab, Unterschiede darin, wie die einzelnen Länder mit ihren Kritikern umgegangen sind. Es ist aber auch eine Art Verneigung an meine zweite Heimat, die ich in Leipzig gefunden habe.
Sie haben auch in tschechischen Schulen aus „Jáchymov“ gelesen. Wie kam es dazu?
Haslinger: Mich schrieb ein Deutschlehrer aus Znaim an. Er würde sich freuen, wenn ich seinen Schülern vorlesen würde, denn, so schrieb er, „im Unterricht lernen die so etwas nicht“. Eigentlich lese ich nicht gerne in Schulen, die Zuhörer sind ja meistens nicht ganz freiwillig da, und dann ist es meistens sehr unruhig. In Znaim las ich vor 500 Schülern in einer Turnhalle, die waren 45 Minuten voll konzentriert. Das war unglaublich, eine wirklich schöne Erfahrung.
Angeblich sind Sie im Zuge der Arbeit an dem Roman zu einem Eishockey-Fan geworden.
Haslinger: Ja, das stimmt. Aus Recherchegründen bin ich regelmäßig zu Eishockeyspielen gegangen. Ohne dass ich das richtig bemerkt hätte, hat sich daraus eine Leidenschaft für diesen Sport entwickelt.
Zur Person
Josef Haslinger wurde 1955 im niederösterreichischen Zwettl geboren. Er ist heute einer der bekanntesten und renommiertesten österreichischen Gegenwartsautoren. Der Durchbruch gelang ihm mit seinem Roman „Opernball“ (1995), in dem ein rechtsradikaler Anschlag auf den Wiener Opernball aus der Perspektive verschiedener Personen erzählt wird. Der anspruchsvolle Politthriller wurde 1998 verfilmt. Es folgten unter anderem die Veröffentlichungen „Das Vaterspiel“ (2000), „Zugvögel“ (2006), „Phi Phi Island“ (2007). „Jáchymov“ erschien 2011 im Fischer-Verlag und liegt mittlerweile auch in tschechischer Übersetzung vor.
Haslingers Werk, das neben Prosawerken auch zahlreiche literaturtheoretische sowie politisch-historische Essays umfasst, wurde mehrfach ausgezeichnet. Der studierte Philosoph, Germanist und Theaterwissenschaftler (Promotion 1980) arbeitet darüber hinaus seit den achtziger Jahren als Hochschullehrer. Derzeit ist er Direktor des Deutschen Literaturinstituts in Leipzig. Er lebt abwechselnd in Leipzig und Wien.
„Markus von Liberec“
Geheimes oder Geheimnistuerei?