Die Fluchthelferin
Im Sommer 1989 begann im Palais Lobkowicz die deutsche Wiedervereinigung. Waltraud Schröder hat die Prager Botschaftsflüchtlinge damals als Einsatzleiterin des Roten Kreuzes betreut
18. 6. 2014 - Text: Martin NejezchlebaText und Foto: Martin Nejezchleba
Es war der Einsatz ihres Lebens. Um ihre Erinnerung daran zu verdeutlichen, bleibt Waltraud Schröder auf dem roten Teppich in der Deutschen Botschaft in Prag stehen, steigt auf die erste Treppenstufe und hebt ihre Fersen an. „Die Treppen konnten wir nur auf Zehenspitzen laufen, mehr Platz gab es nicht“, erinnert sich die 78-Jährige an ihre Zeit als Einsatzleiterin der humanitären Hilfsaktion des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) im Herbst 1989. Insgesamt flohen damals rund 17.000 DDR-Bürger über das Palais auf der Prager Kleinseite in die Bundesrepublik.
„Das Schlimmste war die Enge und das ewige Warten“, sagt Schröder, eine rüstige Dame, Lachfalten, weiße Haare, weißes Rot-Kreuz-Polohemd. Immer wieder schweift ihr Blick durch die Räume, als könne sie nicht glauben, dass sich das Drama hier, inmitten der barocken Pracht des Lobkowicz-Palais abgespielt hat. Zehn Erwachsene saßen auf jeder der etwa drei Meter breiten Treppenstufen, die Kinder auf dem Schoß. Geschlafen habe man, so Schröder, im Stehen, im Sitzen, auf Fensterbänken, in Kartons – in den Zelten im Garten in Schichten. Mit den Tagen des Wartens stieg die Anspannung, mitgebrachter Alkohol befeuerte die Aggressionen unter den Flüchtlingen, Botschafts- und Rotkreuz-Mitarbeiter fürchteten den Ausbruch von Seuchen. „Jemand da oben muss seine Hand über die Menschen hier gehalten haben“, sagt Schröder.
Sie hat in ihrem Leben noch viele Hilfsaktionen geleitet, in Russland etwa, sie hat tausende Albanien-Flüchtlinge von Italien nach Deutschland gebracht. Geprägt aber haben sie die Wochen in Prag. Wohl deshalb, weil sie an einem der entscheidenden Momente der deutschen Wiedervereinigung mitgewirkt hatte und weil sie eine erlösende Botschaft übermitteln durfte. Als die zweite Ausreisewelle erlaubt wurde, stand Schröder mit auf dem Balkon der Botschaft. „Dieser Schrei“, sagt sie in Gedanken versunken, „der klingt heute noch in den Ohren“. 25 Jahre ist das her und Waltraud Schröder steht wieder in der Prager Botschaft. Zu deren Tag der offenen Tür ist sie aus Schleswig-Holstein angereist, um den Besuchern die dramatischen Momente, die sich hier wenige Wochen vor der deutschen Einheit abgespielt haben, zu schildern.
Sommer 1989: Die Menschen in der DDR protestieren gegen die Regierung und gefälschte Wahlergebnisse. Immer mehr Bürger fliehen über Ungarn nach Österreich. Im September schließlich lässt Ungarn DDR-Bürger ohne Abstimmung mit Ost-Berlin ausreisen und öffnet seine Grenzen zu Österreich für die Flüchtlinge in der Budapester Botschaft der Bundesrepublik. Diejenigen, die kein Visum für Ungarn haben, versammeln sich seit August in der Prager Botschaft. Bis September stieg dort die Zahl der Flüchtlinge auf 5.000 an.
Acht Mitarbeiter des Roten Kreuzes kümmerten sich bis dahin um die Menschen, die Situation wurde immer schwieriger. „Die Flüchtlinge kletterten ohne Hab und Gut über den Zaun, alles war überfüllt und die hygienischen Zustände waren schlimm“, sagt Rudolf Seiters, der als Kanzleramtschef bei den Gesprächen über die Ausreise der DDR-Bürger mit am Verhandlungstisch saß. Der heutige DRK-Präsident stand am Abend des 30. September mit Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher auf dem Balkon der Botschaft, als der sagte: „Liebe Landsleute, wir sind gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise…“ Der Rest des Satzes ging im Jubel der Flüchtlinge im Botschaftsgarten unter. Seiters spricht vom Höhepunkt seines politischen Lebens.
Eine Welle nach der anderen
Während im heutigen öffentlichen Bewusstsein die Geschichte der Prager Botschaftsflüchtlinge mit der Genscher-Rede endet, fing für Waltraud Schröder damit das Abenteuer erst an. An diesem Abend war sie in Prag angekommen. Von 22 Uhr bis 7 Uhr am nächsten Morgen sollte ihr Einsatz dauern, die Überführung der DDR-Bürger in die sogenannten „Züge der Freiheit“ musste organisiert werden. „Es war nicht leicht, die Leute davon zu überzeugen. Vor allem, als sie erfahren haben, dass die Fahrt über die DDR gehen sollte“, erinnert sich Schröder. Als sie sich schließlich entschlossen hatten zu gehen, ließen sie alles stehen und liegen. „Es sah aus wie nach einem Sturm, der durch das Haus ging.“ Als das Einsatzteam um 11 Uhr gefrühstückt hatte, standen schon wieder 3.000 Flüchtlinge vor der Tür – und Waltraud Schröder blieb.
45 Großraumzelte des DRK und der Bundeswehr wurden im Garten der Botschaft aufgebaut, 3.000 Betten und Matratzen draußen und im Gebäude. Die DRK-Mitarbeiter – in Hoch-Zeiten arbeiteten bis zu 50 Helfer vor Ort – schliefen in den einzigen zwei Räumen, die weiterhin vom Botschafter und dessen Personal genutzt wurden.
Waltraud Schröder läuft unter der mit antiken Figuren verzierten Kuppel durch die Toreinfahrt. „Hier standen vierstöckige Feldbetten, dort der einzige Toilettenwagen auf dem Gelände. Es gab aber viele Büsche und Sträucher.“ Schröder zeigt auf den leicht ansteigenden Garten und erinnert sich daran, als Starkregen die Fäkalien von tausenden Flüchtlingen in die Einfahrt spülte. „Das ist nicht mehr machbar“, hatte Schröder damals zum Botschafter gesagt. Sie hatte Angst, dass die angespannte Stimmung bald in offene Aggression umschlägt.
Schließlich konnte auch die zweite Flüchtlingswelle am 4. Oktober ausreisen. Mitte November dann, nachdem die DDR zwischenzeitlich ihre Grenzen zur Tschechoslowakei dicht gemacht hatte, noch eine dritte Welle.
Dass der Lagerkoller in der Prager Botschaft nicht zu einer Tragödie auswuchs, erklärt sich die damalige DRK-Einsatzleiterin heute so: „Die Leute hatten einen gemeinsamen Wunsch, sie wollten in die Freiheit. Das hat dazu geführt, das letztlich alles gut gegangen ist.“ Das Gefühl, an ihrer Reise in die Freiheit mitgewirkt zu haben, erfüllt sie bis heute mit Stolz.
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