Die Geschichte einer Stimme
Wer Straßenbahn oder Bus fährt, hört die Haltestellen-ansagen Dagmar Hazdrovás. Aber wer ahnt schon, dass diese Frau 80 Jahre alt ist? Ihre Karriere am Mikrofron stieg und fiel mit den Schlüsseldaten der Nachkriegsgeschichte
5. 11. 2013 - Text: Nancy WaldmannText und Foto: Nancy Waldmann
Dagmar Hazdrová würde den Menschen eigentlich gern etwas anderes sagen als nur die Namen der Haltestellen, die sie Tag für Tag durch die Lautsprecher der Prager Straßenbahnen und Busse hören. Sie wünschte sich, sie könnte durchsagen: „Benehmen Sie sich anständig!“, „Schreien Sie sich nicht an!“ Oder: „Nehmen Sie keine fremden Taschen mit!“ Manchmal sagt Hazdrová es den Leuten, wenn sie selbst in der Straßenbahn sitzt. Sie sagt es höflich, findet sie. Aber die Leute pöbelten oft zurück. „Diese Grobheit heutzutage, das stört mich wahnsinnig! Wir waren zivilisatorisch schon mal weiter.“ Hazdrovás Stimme lotst die Prager seit 14 Jahren durch die Stadt, sie selbst scheint ein wenig verloren in der Realität des Alltags. Ihre Empörung ist ehrlich, sie nimmt sie gleich wieder ein bisschen zurück. „Vielleicht war es zu pessimistisch, was ich gesagt habe. Aber ich wünsche mir eben eine gerechte Welt!“
Die Welt in den Ohren
Dreißig, vierzig Jahre mag die Frau alt sein, denkt man, wenn man in der Tram ihre Stimme hört, eine singende Stimme, eine, die etwas von sich preisgibt. Dagmar Hazdrová ist schon 80, aber bis auf diese leichte verletzte Kritik, die die Alten immer gegenüber der Welt der Jungen äußern, und bei der Hazdrová unwillkürlich die Zähne zeigt, bemerkt man davon nichts. Schlank und leger gekleidet sitzt sie in ihrer großzügig gebauten, modernistischen Wohnung im Prager Stadtteil Žižkov. Es ist hell, das Licht fällt durch große, gut gepflegte Zimmerpflanzen auf Hazdrovás kurzes, weißes Haar und auf Bücherregale, in Räume, die durch eine alte elegante Glaswand getrennt sind. Eine Wohnung, die mondän wirkt, und irgendwie nicht tschechisch.
Hazdrovás Lebenslauf ist sehr tschechisch. Die Geschichte ihrer Stimme ist die Geschichte dieses Landes. 1948, 1968, 1989 – mit diesen drei Daten stieg und fiel Hazdrovás Karriere. Geboren wurde sie in Mladá Boleslav, der Vater war Offizier und ging während des Kriegs in den Untergrund. Mit ihm saß sie immer vor dem Telefunken-Radio und hörte Live-Konzerte. „Ich liebte das Radio. Die Welt erschloss sich mir immer mit den Ohren.“ Als Kind sang Hazdrová gern Lieder vor, rezitierte Märchen und Weihnachtsgedichte bei jeder Gelegenheit vor Publikum. Die Lehrer in der Schule wussten von ihrem Talent und so kam es, dass Hazdrová ihren ersten Auftritt am Mikrofon 1948 hatte – im Jahr des Putsches.
Beim landesweiten Sportfest der patriotischen Turnbewegung „Sokol“(„Falke“) in Prag, das den Charakter einer antikommunistischen Demonstration trug, sollte die 14-jährige Dagmar Texte für Kinder vortragen. „Ich stand auf dem Balkon und las Texte von Jan Sehák. Die Kinder hörten mir zu, danach sollten sie turnen. Ich war mitten in der Pubertät und als ich meine Stimme hörte, die so weit schallte, erstarrte ich. Da wurde mir bewusst, was die Stimme für eine Kraft entfalten kann.“ Trotz dieses Erlebnisses dauerte es lange, bis Hazdrová wieder ans Mikrofon treten konnte. Sie erlernte einen Beruf als Fremdsprachendokumentarin, den sie langweilig und monoton fand. Sie verliebte sich und heiratete einen Ingenieur. Einer, der sie am Boden hielt, wie sie sagt, der Gegenpol zu ihr und doch ein Seelenverwandter. Hazdrová glaubt an Inkarnation und Wiedergeburt.
Als sich die Chance bot, sich um eine Ausbildung als Radiosprecherin zu bewerben, hat sie nicht gezögert. „Sie suchten Sprecher bis 27 Jahre. Ich war schon 29. Aber ich sagte mir: Ich mache das, die müssen mich einfach nehmen!“, erzählt Hazdrová mit geballter Faust. „Und ich habe es bekommen!“ Das vorher Erlernte kam ihr zugute, Bewerber mussten mindestens zwei Fremdsprachen vorweisen. Hazdrová lernte, professionell zu sprechen und die Emotionen in der Stimme einigermaßen zu kontrollieren. Von Live-Lesungen bis zur Zeitansage – Hazdrová hat eingesprochen, was zu sagen war. Ihr persönlicher Höhepunkt: die Moderation der Live-Übertragungen des Musikfestivals „Prager Frühling“ („Pražské jaro”). Als erste Frau überhaupt.
„Green berets“ im Radio
Die nächste Zäsur kam 1968. Hazdrová arbeitete in der Redaktion des Tschechoslowakischen Rundfunks in Hradec Králové – da, wo die Truppen des Warschauer Pakts zuerst vorbeizogen. „Wir sind bei euch! Seid bei uns!“, schickte der Rundfunk am 21. August um halb fünf Uhr morgens durch den Äther. „Radio Free Europe in München hat uns über seine Wellen gesendet, wir waren zu dem Zeitpunkt auf der ganzen Welt zu hören!“, erzählt Hazdrová. „So lange es ging, haben wir uns den Russen widersetzt. Schließlich wurden wir alle bestraft – als Konterrevolutionäre, als ‚Green berets‘ der Münchner Zentrale. Unglaublich!“
Nach sieben Jahren im Radio bekam Hazdrová Berufsverbot. Zwei Jahre lang hatte sie keine Arbeit. Auf 32 Stellen bewarb sie sich, nirgendwo durfte man sie nehmen. Schließlich putzte sie Badewannen und Toiletten in sozialen Einrichtungen. Fast 20 Jahre lang. „Mich hat das nicht gestört.“ Dieser Satz verwundert aus dem Mund einer Frau, die nach Gerechtigkeit strebt. Hazdrová spricht gern von „Demut“ und sie findet, die Zeit der Normalisierung war dafür eine Lehrzeit, auch für ihre beiden Töchter.
Mit Ende 50 wieder on air
Mit der Revolution von 1989 kehrte Hazdrová zurück ans Mikrofon. „Radio war für mich immer noch wie eine Droge!“, sagt sie. In diesem Moment war alles ganz einfach. Sie fragte beim Rundfunk an und die Kollegen sagten: „Ja, dann komm!“ Mit Ende 50 saß Hazdrová erneut in der Vinohradská-Straße, on air im Studio des Tschechoslowakischen Rundfunks.
Vielleicht hat ihre Lebensgeschichte Hazdrovás Stimme immer besser gemacht. Ende der neunziger Jahre kam eine Akustikfirma auf sie zu, um ihre bekannte Radiostimme in den öffentlichen Nahverkehr zu bringen. Es dürfte nicht viele in ihrer Generation geben, die für Ansagen dieser Art gefragt werden. Tausende Stationen und Namen hat Hazdrová seitdem eingesprochen. Sie ist nicht nur in der Hauptstadt zu hören, sondern auch in Ústí nad Labem, in Jablonec nad Nisou und im Fernverkehr. Bis heute spricht sie neue Haltestellen ein.
Einmal hat Dagmar Hazdrová in einem wichtigen Moment geschwiegen: Als sie ihren Mann kennenlernte. Es war der Abend nach dem Begräbnis Klement Gottwalds 1953. Hazdrová und ihr späterer Ehemann hatten zusammen mit vielen anderen Studenten und Lehrlingen auf dem Wenzelsplatz Spalier stehen müssen, als der Sarg des Diktators vorbeigetragen wurde. Ein Schulfreund lud trotz der verordneten Staatstrauer zu einem Privatkonzert nach Hause ein: Strawinski. An diesem Abend sprach ihr Mann, sie hörte zu.
Auf unbestimmte Zeit verschoben
Neue Formen des Unterrichts