Die Grenzen mit den Augen von Schwejk sehen
Rolf Böhm zeichnet Landkarten der Böhmisch-Sächsischen Schweiz. Bei einer Wanderung stellte er fest: Tschechien hat Land an Deutschland verloren
21. 9. 2016 - Text: Franziska Neudert, Fotos: privat
Landkarten faszinierten Rolf Böhm schon, als er noch ein Kind war. Das „geografische Gen“, wie er es nennt, habe er von seinem Vater geerbt, der als Architekt auch einen Hang zu Karten hatte. Seine Wanderkarten zeichnet Böhm noch von Hand. Etwa 1.000 Stunden braucht er, bis eine fertig ist. Ungewöhnlich findet er das nicht. Man werde deshalb zwar angeschaut, als käme man aus dem Jenseits, sagt er. „Bis vor 30 Jahren war es aber noch ganz normal, dass Karten von Hand gezeichnet wurden.“ Böhm blieb beim Stift, da ihn bis heute keine Software überzeugte – weil die Karten „unästhetisch, technisch und blöd“ aussähen. Für seine Studien zieht der Kartograf regelmäßig „ins Feld“, um zu schauen, welche Wege sich wie verändert haben. So auch im April dieses Jahres. Damals stellte Böhm fest, dass der Grenzfluss zwischen Böhmen und Sachsen seinen Verlauf geändert hat. Die Kirnitzsch hatte einen Mäander durchbrochen, die deutsche Seite damit knapp 500 Quadratmeter Land gewonnen.
Wie muss man sich das vorstellen, wenn eine Karte von Hand entsteht?
Die Karte wird zweimal gezeichnet. Im Gelände habe ich eine Kartengrundlage, für die ich mir ein Messtischblatt oder Kletterkarten mitnehme, also möglichst alte Karten. Ich bin mit GPS unterwegs und trage nach, was sich alles geändert hat. Heutzutage werden Karten überwiegend aus dem Luftbild erschlossen – da sieht man aber zum Beispiel nicht, wo der Wanderweg mit dem blauen Kreuz langgeht, kleine Feinheiten zur Orientierung fehlen. Das trage ich dann nach, auf DIN-A4-Blättern mit Koordinaten, sogenannten Feldbüchern. Auf einem weißen Blatt zeichne ich später im Büro alles noch einmal ab. Das ist dann die Reinzeichnung.
Wie haben Sie bemerkt, dass sich die deutsch-tschechische Grenze verändert hat?
Ich gebe Wanderkarten der Sächsischen und Böhmischen Schweiz heraus und kartiere dazu regelmäßig im Gelände, um Veränderungen festzustellen. Routinemäßig gehe ich alle fünf Jahre mal los und so habe ich das entdeckt. Die Grenzänderung selbst ist vermutlich beim Hochwasser 2013 geschehen.
Was genau ist passiert?
Man muss sich das so vorstellen: Der Wasserlauf schlängelt in ganz engen S-Kurven. Bei einem Hochwasser springt der Fluss aus seinem Bett heraus und überschwemmt alles. Das Wasser wird dann reißend und nimmt eine Abkürzung. Es buddelt ein neues Bett. Nach dem Sinken des Wasserspiegels kehrt der Fluss nicht in das alte Flussbett zurück, er hat abgekürzt.
Inwiefern hat sich mit dem Flusslauf die deutsch-tschechische Grenze verändert?
Die Grenze ist in der Flussmitte definiert, in unserem Fall in der Mitte der Kirnitzsch. Übrigens schon sehr lange, seit dem Vertrag von Eger aus dem Jahr 1459. Die böhmisch-sächsische Grenze ist eine der ältesten und stabilsten Grenzen in Europa. Wenn der Fluss seine Lage verändert, ändern sich die Staatsgebiete.
Kann man tatsächlich sagen, Deutschland ist dadurch größer geworden?
Um etwa 500 Quadratmeter, ja. Das ist völkerrechtlich unbedeutend, für einen Häuslebauer aber schon eine interessante Größe. Im Übrigen handelt es sich um Wiesen im Nationalpark Böhmische beziehungsweise Sächsische Schweiz, also um recht abgelegene, unbedeutende Grundstücke. Im Grunde genommen achtet kein Mensch darauf. Man muss das ein wenig mit den Augen von Schwejk sehen. Das sächsische Innenministerium und die tschechische Nationalparkverwaltung haben aber eher unwirsch reagiert. Ein Laie sei doch nicht für Grenzen zuständig, sondern die Grenzkommission.
Was bedeutet so eine Veränderung für die Grenzziehung?
Wir denken immer, Grenzen sind in Stein gehauen, gehen also dort entlang, wo Grenzsteine stehen. Das stimmt nur zum Teil, und zwar bei den sogenannten trockenen Grenzen. Das Gegenstück ist die nasse Grenze. In der Tat bilden Flüsse überaus häufig Grenzen. Es gibt bekanntere Beispiele, wie die Donau zwischen Rumänien und Bulgarien oder den Rio Grande zwischen Texas und Mexiko. Nicht zu vergessen Oder und Neiße. Und es gibt bescheidenere nasse Grenzen, wie die Kirnitzsch zwischen Hinterhermsdorf und Tschechien. Da geht die Grenze immer genau in der Flussmitte lang. Die Grenzsteine am Ufer haben lediglich symbolischen Charakter.
Können auch massive Grenzveränderungen passieren?
Durchaus, aber eher selten. Sonst würden Menschen Flussachsen ja nicht zur Grenzdefinition nutzen. Bei sehr großen Änderungen werden die beteiligten Länder ihre Grenzverträge ändern. Laut dem sächsischen Staatsbetrieb Geoinformation soll das im vorliegenden Fall übrigens schon passiert sein. Dafür bedürfte es aber einigen diplomatischen Aufwandes. Es müsste ein Staatsvertrag abgeschlossen werden, den die Parlamente bestätigen müssten. Das ist nicht erfolgt. Solange kein geänderter Vertrag in Kraft ist, gilt das alte Grenzrecht weiter, auch wenn die beteiligten Seiten sich behördenintern über eine Grenzänderung einig sind. Die Verträge sind übrigens bei den Vereinten Nationen hinterlegt.
Haben Sie das Phänomen auch an anderen Grenzen beobachtet?
Nein, die Flussläufe sind recht stabil. Nach Angaben des sächsischen Staatsbetriebes Geoinformation gibt es solche Änderungen mitunter aber doch. So soll vor etwa 20 Jahren ein Grenzfluss bei Oberwiesenthal seine Lage geändert haben.
Wird so etwas auch in Zukunft passieren?
Ein kleines Stück flussab, etwa 200 Meter unterhalb von Hinterdittersbach, also ebenfalls im Nationalpark Böhmische-Sächsische Schweiz, wartet schon ein anderer Kirnitzschmäander darauf, abgekürzt zu werden. Diesmal aber mit umgekehrter Staatenlage und von etwa vierfacher Größe. Wenn die Kirnitzsch durchbricht, werden etwa 2.000 Quadratmeter von Deutschland an Tschechien gehen. Das wäre insgesamt ein Gebietsgewinn für Tschechien von 1.500 Quadratmetern. Bis es soweit ist, also bis dieser zweite Mäander durchbricht, können aber noch einige Jahrzehnte ins Land gehen.
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