Die Kinder des Rabbi Löw
Vom Leben hinter den alten Steinen: Ein Streifzug durch das jüdische Prag
9. 11. 2016 - Text: Katharina Haase
Durch die schiefen Grabsteine bahnt sich der Golem seinen Weg. In einer Stube sitzt der bärtige Rabbi Löw bei Kerzenlicht über mystischen Büchern. Solche Bilder haben Besucher oft im Kopf, wenn sie an das jüdische Prag denken. Wie das Leben der jüdischen Gemeinde heute aussieht, bekommen dagegen nur wenige mit.
Sylvie Wittmann hat das geärgert. „Wenn ich die Touristenführer im jüdischen Viertel hörte, sprachen sie immer in der Vergangenheitsform. ‚Die Juden waren. Die Juden feierten. Die Juden hatten.‘ Aber die Prager Juden sind doch nicht ein paar alte Steine auf dem Friedhof – sie sind und sie feiern und sie haben! Das hat mich so wütend gemacht, dass ich selber mit Stadtführungen begonnen habe.“
Wittmanns Agentur ist auf Führungen durch das jüdische Prag spezialisiert. Es ist in Prag allerdings – wie auch in anderen Städten – problematisch, von „der“ jüdischen Gemeinde zu sprechen. Im Judentum existieren konservative, orthodoxe, liberale und chassidische Ausprägungen der Religion.
„Vor dem Krieg war man in Prag eher dem liberalen Sektor zugeneigt“, erklärt David Maxa, der als angehender liberaler Rabbiner unter anderem in den Gemeinden Prag, Karlovy Vary und Liberec wirkt. Maxa ist Sohn eines Holocaust-Überlebenden und kommt aus einer säkularisierten Familie. Erst nach dem Tod seines Vaters begann er, sich für das Judentum zu interessieren, die Synagoge zu besuchen und die Religion zu studieren. Der Beruf des Rabbiners ermöglicht es ihm, mit Menschen zu arbeiten, aber auch akademisches Wissen zu vertiefen, da im Judentum die Lehre und Auslegung der Schriften eine zentrale Rolle spielen.
In Tschechien gibt es keine Institution, die Rabbiner ausbildet. Maxa lernt daher am „Abraham Geiger Kolleg“ in Berlin. Das Verhältnis zwischen den Strömungen des Judentums in Prag sieht er zunehmend positiv und betont, dass er sich freut, wenn es Gelegenheit gibt, mit einem orthodoxen Rabbiner zu diskutieren und festzustellen, dass man sich auf gewisse Punkte einigen kann.
Nach der Samtenen Revolution wandte sich die Mehrheit der Prager Gemeinde dem orthodoxen Flügel des Judentums zu. So wird das Oberrabinat der Stadt heute vom orthodoxen Rabbiner David Peter besetzt.
Erinnern an den Holocaust
Auch Touristenführerin Wittmann hat gute Erfahrungen im Austausch mit dem orthodoxen Teil der Gemeinde gemacht: „Sie haben uns niemals verwehrt, Räume für unsere Veranstaltungen zu nutzen. Zum Beispiel haben wir einmal eine Bar Mizwa in der Pinkas-Synagoge abgehalten. Dort stehen die Namen von 78.000 im Holocaust ermordeten Menschen an den Wänden. Der Junge, der aus der Thora vorlas, wurde plötzlich von seinem kleinen Bruder unterbrochen, der mitten in der Zeremonie in die Menge rief: ‚Warte, warte!‘ Der Rabbiner wurde nervös und die Leute ungeduldig, aber der Kleine rief immer wieder: ‚Warte, warte!‘ Schließlich begann er, die Namen seiner Familie, die er an der Wand gefunden hatte, vorzulesen. Die Menschen waren tief gerührt und verstanden, dass jeder Familie dieser Ort zugänglich sein sollte.“
Das Thema Holocaust prägt auf die ein oder andere Weise die meisten Familiengeschichten. Wittmann hebt hervor, dass man von den Überlebenden auch viel für die Gegenwart lernen könne. „Bei einer meiner Führungen durch Theresienstadt stand ich mit einer Kollegin in einem engen Raum, in dem einst 60 Frauen mit ihren Kinder untergebracht waren. Meine Kollegin war eines dieser Kinder gewesen. Ich bat sie, ihre Erfahrung aus ihrer Zeit mit uns zu teilen. Sie sagte: ‚Oh, wir haben es geliebt! Wir Kinder kämpften um das Schabbat-Essen. Wir hatten einen Wettbewerb, bei dem wir von einem Bett zum anderen sprangen, und wer nicht ausrutschte, gewann das wunderbare Schabbat-Essen.‘ Ich fragte sie: ‚Wunderbares Essen in Theresienstadt? Was soll das gewesen sein? Ein kleines Stück Brot? Eine Scheibe verdorbener Salami?‘ Doch sie antwortete: ‚Nein, nein diese Salami hätte ich niemals gegessen. Meine Lieblingsspeise waren Erdbeertaschen.‘ Sie sah mich an, ihr sonst immer lächelndes Gesicht erstarrte plötzlich: ‚Natürlich bestanden die Teigtaschen nur aus Mehl und Wasser und die Füllung aus Rüben. Aber es gab eine Frau, die sich die Mühe gemacht hatte, den Rübenbrei zu färben, sodass er aussah wie Erdbeermus. Wir lernten, in unserer Fantasie Erdbeertaschen daraus zu machen.‘“
Beten oder Freunde treffen
Wittmann ist Mitgründerin der liberalen Vereinigung Bejt Simcha (Haus der Freude). Die Organisation bietet neben Gottesdiensten auch Vorträge, Seminare und andere Veranstaltungen an. Sie will einen Ort für alle schaffen, die sich dem Judentum in irgendeiner Form zugehörig fühlen. Willkommen sind laut Wittmann auch Menschen, die im orthodoxen Judentum nicht als jüdisch anerkannt werden, weil ihre Mutter keine Jüdin war.
Die Religionszugehörigkeit der Mutter ist im Judentum entscheidend. Der angehende Rabbiner Maxa weist auf eine Besonderheit im Hinblick auf den persönlichen Glauben hin: „Im Christentum wird betont, dass der Mensch glauben muss, aber im Judentum ist der Glaube nicht das herausragende Kriterium. Es gibt viele Menschen in Liberec und auch in Prag, die sich nicht als religiös bezeichnen würden und auch die Synagoge kaum besuchen. Dennoch sind sie ein wichtiger Teil der Gemeinde.“ Die Struktur der einzelnen Gemeinden sei sehr heterogen, so Maxa. „Manche Menschen kommen, weil sie beten wollen, andere, um ihre Freunde zu treffen.“
Auch Rabbi Manis Barash vom Prager Zweig der chassidischen Chabad-Bewegung versichert, dass Mitglieder aller Ausprägungen der Religion willkommen seien. Das Chabad Maharal Center wurde 1996 gegründet. Ein wichtiger Bestandteil von Chabad ist die kabbalistische Tradition. „Die Kabbala ist die versteckte Seele der Tora“, sagt Rabbi Barash. Hinter dem Begriff verbirgt sich eine philosophische Auslegung der Schriften, die von der Populärkultur oft auf Buchstabenmagie reduziert wird. „Maharal“ ist ein weiterer Name des berühmten Rabbi Löw.
Auf die Frage an Maxa, ob die Legende um den Rabbi Löw zu sehr als Lockmittel für Touristen verwendet wird, antwortet er, dass er stolz sei auf die Verbindung Prags mit dem Gelehrten und auch mit der Golem-Legende, die er Kindern immer gerne erzähle. Auch der Berühmtheit Franz Kafkas wird er nicht überdrüssig. „Er hat diese Stadt sehr gut beschrieben. Ich erinnere mich daran, wie ich einmal mit meinem Vater auf dem Alten Jüdischen Friedhof war, um das Grab meines Urgroßvaters zu suchen, das wir partout nicht finden konnten. Die Dunkelheit kam, und für mich als etwa Fünfjährigen war der düstere Friedhof mit den großen Steinen sehr beängstigend. Als wir aufgaben und zum Tor zurückgingen, war es geschlossen. Wir baten Passanten, die am Zaun vorbeikamen, die Polizei zu rufen, aber es dauerte eine Stunde, bis das funktionierte und als die Polizei schließlich kam, forderte sie uns auf, zu klettern. Irgendwann tauchte dann der Torhüter wieder auf. Eine sehr kafkaeskes Erlebnis.“
Auf die Frage nach Antisemitismus hierzulande antwortet Maxa, dass Anfeindungen sich meistens auf dumme Witze beschränkten. Für die Prävention würde er sich allerdings umfangreichere Programme wünschen, die verstärkt auf interkulturelle und interreligiöse Zusammenarbeit hinauslaufen sollten. „Es wäre zum Beispiel schön, enger mit Institutionen wie dem Goethe-Institut zusammenzuarbeiten. Die Geschichte der Prager Juden ist ja ein Teil der deutschen Geschichte.“
Gemeinsam lernen
Rabbi Barash sieht im tschechischen Staat einen guten Partner. „Die Gesellschaft hierzulande hat im Allgemeinen eine unterstützende Haltung dem israelischen Staat gegenüber, was heute eine Seltenheit in Europa darstellt. In Tschechien ist man tolerant und offen gegenüber der jüdischen Religion. Wir unterhalten sehr gute Beziehungen zu unseren nicht-jüdischen Nachbarn.“ Wittmann fügt hinzu, dass auch viele nicht-jüdische Kinder die jüdischen Schulen besuchen. „Ich finde, das ist das Beste, was passieren kann.“
In den meisten Gemeinden versucht man, Sprachbedürfnissen entgegenzukommen. Maxa betont, es sei zwar wichtig, den Kontakt zum Hebräischen zu halten, dennoch versucht er, eine Balance zwischen Hebräisch, Tschechisch und anderen Sprachen zu halten. Auch im Chabad Maharal Center bietet man sowohl Tschechisch als auch Hebräisch und Englisch an.
Neben den tschechischen Juden kommen Touristen aus aller Welt, um die jüdische Kultur in Prag zu erleben. Einen regelrechten Heiratstourismus erfährt die Stadt von israelischen Paaren, die aufgrund strenger religiöser Bestimmungen in Israel nicht getraut werden können.
Koscher übernachten
Gegenüber der Stadtautobahn unweit des Hauptbahnhofes liegt das koschere Hotel „King David“. Ein Maschgiach, eine Art Aufseher, wacht über die Einhaltung der Gebote – sowohl bei der Zubereitung der Speisen als auch, wenn es um die Ruhe am Schabbat geht, der von Freitagabend bis Samstagabend dauert. Solange dürfen elektronische Geräte nicht benutzt werden, das Hotel bietet den Gästen daher an, die Chipkarte für das Hotelzimmer gegen herkömmliche Schlüssel auszutauschen. Auch das Licht muss automatisch angeschaltet werden, damit die Gäste den Lichtschalter nicht zu betätigen brauchen.
Im „Jewish E-Shop“ in Vinohrady werden seit einem Jahr Produkte für den jüdischen Haushalt verkauft. Koscheren Wein kann man dort ebenso erwerben wie eine bunte Kippa, Schmuck oder Bücher. Die Hamsa, die Glück bringende Hand der Miriam, wird hier auf Wunsch eigens angefertigt. Das junge Paar, das den Laden eröffnet hat, verkauft derzeit noch mehr über das Internet als im Geschäft, würde sich aber über zunehmende Laufkundschaft freuen.
Im Laden geht es wie im „Hotel King David“ offen und entspannt zu. Aber Rabbi Barash sagt: „Im Judentum hat vor einem Monat das Jahr 5777 begonnen. Viele Juden in Europa haben Angst vor der Zukunft und ein Gefühl der Unsicherheit. Dieses Jahr beten besonders viele Menschen für den Frieden. Es ist traurig, wenn bewaffnete Soldaten vor Gotteshäusern stehen müssen.“
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