Die Klischee-Kiste
Die Handlung des ARD-Mehrteilers „Das Verschwinden“ spielt im deutsch-tschechischen Grenzgebiet. Doch liefert er auch Erhellendes über Tschechien?
5. 11. 2017 - Text: Aleš Krupa
Ja, dieser Fernsehfilm war spannend. So spannend, dass er problemlos vier Teile über jeweils 90 Minuten trug. Und im ersten Teil nährte er die Hoffnung, dass ein deutsches TV-Stück endlich mal nicht altbekannte Vorurteile und Plattitüden wiederholt, sondern das Nachbarland näher beleuchtet. Zwar wollte auch da schon ein deutscher Vergnügungsstätten-Betreiber am liebsten eine Diskothek von diesen „Scheiß-Tschechen“ abfackeln, weil sie ihm jenseits der Grenze zu einer unliebsamen Konkurrenz geworden war. Dies konnte man aber getrost als Branchen-Slang abtun. Warum sollte der Geschäftsführer eines Freizeitbetriebes viel Ahnung von einem freien Markt in Europa haben, in dem Angebot und Nachfrage die Geschäfte bestimmen?
Schon ab der zweiten Folge wurden Griffe in die Klischee-Kiste jedoch häufiger. So traf ein Vater nur deshalb auf seine uneheliche Tochter, weil er eben gerne mal „nach drüben“ fährt – wenigstens nicht, wie in so vielen deutschen Filmen, in ein Bordell, sondern in ein tschechisches Spielcasino. Nicht ganz unverständlich, denn schließlich soll auch Tennis-Legende Boris Becker laut deutscher Presseberichte regelmäßig im Casino Rozvadov anzutreffen sein.
Vietnamesen fuhren dem jungen deutsch-türkischen Dealer nach, um verkaufte Drogen zurückzuholen. Vietnamesen kochten Crystal Meth in einer Großküche. An dieser Stelle dürfte es die Gemeinschaft der Vietnamesen in Tschechien nicht sehr erfreut haben, dass ein paar „schwarze Schafe“ wieder mal das Gesamtbild von „den Vietnamesen“ im Land prägten.
Allerdings zeigte sich ein vietnamesischer Ladenbesitzer auf einem grenznahen Markt in diesem Film hilfsbereit, ließ die verzweifelt suchende Mutter Fotokopien machen und Plakate mit dem Konterfei ihrer vermissten Tochter an seiner Tür aushängen. Endlich mal eine Imagebestätigung für viele ehrbare vietnamesische Einzelhändler, die etwa in Prag Geschäfte betreiben. Obwohl später doch Bekleidung der Tochter in seinem Laden auftauchte (die er indes zufällig gefunden hatte). Und ihre Tasche auf einer nahen Müllkippe.
Der Film entblößte grandios Verlogenheit und Hilflosigkeit in Familien, Klüngel und Freundschaft zwischen vermeintlich honorigen Bürgern, Dienst(über)eifer und Pflichterfüllung unter Beamten. Das Schmiermittel dafür war die Droge Crystal Meth, die ein Provinzkaff im bayerisch-böhmischen Grenzland geradezu „überschwemmte“. So wurde es zumindest dargestellt.
Eine Weile hatte es den Anschein, dass das deutsch-tschechische Nebeneinander allein auf dieses Drogenproblem reduziert würde. Erst zunehmend kristallisierte sich heraus, dass es in erster Linie um vielfältige soziale Konflikte hinter deutschen Fassaden ging. Hilflose Väter, strenge Mütter, tödlich gelangweilte Töchter, die sich mit Crystal Meth in Todesgefahr (als Junkie) und Lebensgefahr (als Dealer) begeben, nur um der Lethargie ihres Daseins zu entgehen – all dies verlangte große Schauspielkunst, um gut zu sein. Und sie wurde geliefert. Ganz besonders von Julia Jentsch, zerrissen zwischen zwei unehelichen Kindern und deren Vätern. So authentisch jagte sie auf deutschem und tschechischem Boden jeder Spur ihrer verschwundenen volljährigen Tochter nach, dass Zuschauer bis zur letzten Minute mit ihr hofften und bangten. Dabei sah man ihr auch nach, dass sie das böhmische Hinterland als „Arsch der Welt“ bezeichnete. Immerhin hatte sie dort gerade mit einer Freundin ihrer Tochter eine Drogenküche entdeckt. Trotzdem hätte man ihr in dem Moment gerne zu einem Besuch von, sagen wir, Domažlice geraten, einem sehenswerten historischen Städtchen im Kreis Pilsen.
Mit Blick auf die deutsch-tschechischen Beziehungen spielte freilich ein Polizist die Hauptrolle. Jener Beamte nämlich, der in seinem Kampf gegen die Ausbreitung von Crystal von Folge zu Folge mehr verzagte und am Ende so verzweifelt wirkte wie die suchende Mutter. Dabei überschritt er von Beginn an Grenzen zwischen Recht und Unrecht. Die zwischen Deutschland und Tschechien wollte er am liebsten „wieder schließen“, weil auf ihr lediglich „kiloweise Crystal“ von Ost nach West geschafft werde. Für das Urteil, dass offene Grenzen seit 1989 vor allem vielfache Begegnungen ermöglichten oder (Reise-)Freiheit schufen, war sein Weltbild zu klein. Auf einer ost-westlichen Verbindungsstraße hatte für ihn „jeder Zweite Crystal Meth im Auto“. Obwohl die ganz großen Mengen eher selten über die deutsch-tschechische Grenze kommen. Und „warum die Tochter wohl sonst in Tschechien“ gewesen sei, wenn nicht wegen Crystal, war für ihn überhaupt keine Frage. Da kam die Replik der Mutter richtig toll, dass er nach ihrer Tochter endlich suchen und nicht fahnden solle. Es machte ihn wahnsinnig, immer nur „ein paar Krümel“ Rauschgift sicherstellen und damit nicht das LKA auf die Verbrechermeute hetzen zu können. Wo er doch überzeugt davon war, dass es an seiner „100 Kilometer langen Grenze jeden Tag Drogenfahrten“ geben müsse. Allerdings wirkte sein Frust an dieser Stelle echt, wenn er auf zu wenige Kontrollen wegen zu geringem Personal verwies und sich von der Politik im Stich gelassen fühlte.
Dabei jagte der Polizist nicht nur Dealer. Sondern auch Wild. Sehr gerne in Tschechien. Dort sei der Wildbestand eben ganz besonders. Wobei ihn herzlich wenig interessierte, wenn Schonzeit für die Tiere war. Ein junger Kollege, den er mitnahm, feuerte sogar mit einer Dienstwaffe auf das erlegte Tier. Selbstverständlich kauften die deutschen Beamten auf der Rückfahrt noch billige Zigaretten ein. Vorhersehbar, dass gerade aus seinem Mund irgendwann das geflügelte Wort „Nutte“ fallen musste, nachdem er eine Frau aus einem Auto in Tschechien aussteigen sah. Der Polizist war der einzige, der konsequent bayerischen Dialekt sprach. Daher hätte die Handlung auch problemlos an der deutsch-holländischen Grenze mit all ihrer Drogenproblematik spielen können. Aber sie ist lange nicht mehr so in Mode wie Crystal in Tschechien.
Dennoch glückte den Drehbuchschreibern eine differenzierte Auseinandersetzung mit der Droge, ohne ihre Gefahren zu verharmlosen. Nicht, weil schon Klein-Evi, die Halbschwester der vermissten Tochter, wusste, dass das Teufelszeug „weiß ist und man davon süchtig wird und dass man es deshalb nicht verkaufen“ darf. Entscheidender war vielmehr jene Schlüsselstelle, in der eine abhängige Tochter erläuterte, warum sie überhaupt in Drogen flüchtete. Nämlich ihr Bekenntnis, das Drogengift würde sie schon aus ihrem Körper bekommen, nicht aber das Wissen darum, die Ansprüche ihrer Mutter nicht erfüllen zu können. Weil sie nicht wie ihre Mutter sei. Vor allem: Weil sie nie wie ihre Mutter werden wolle.
Trotzdem blieb Tschechien – wie so oft im deutschen Fernsehen – auch dieses Mal über weite Strecken ein unberechenbarer und zuweilen böser Flecken Erde. Eine Mutter wollte dort „nicht gerne alleine bleiben“, obwohl die reiche deutsche Familie gleich nach der Grenzöffnung ein großes Ferienhaus erworben hatte, irgendwo im schönen Böhmerwald.
Der Mehrteiler wurde auch mit Mitteln des tschechischen Staatsfonds der Kinematographie gefördert. Man hätte sich gewünscht, dass tschechische Polizisten bei einer Razzia in ihrem eigenen Land nicht nur „mitmachen“ durften, sondern als aktive Helfer im Drogenkampf gezeigt worden wären. Dass menschliche Hilfe für die verzweifelt fragende Mutter daran scheiterte, weil man in Tschechien eben Tschechisch spricht, war platt. Zumindest gab es im Rasthaus „Mayday“ an der D 5 einen schönen Eisbecher für Klein-Evi …
Denken Jüngere und Ältere in der deutschen Provinz (und darüber hinaus) tatsächlich so über das Nachbarland? Könnte sein. Handeln sie auch so wie in dem Film? Nicht auszuschließen. Bildete diese Mini-Serie also die Realität in der deutsch-tschechischen Provinz ab? Sicher nicht.
Sie war keine Dokumentation, die eine oft vorbildliche Zusammenarbeit zwischen Feuerwehren, Kindergärten oder Sportvereinen in Grenznähe zu thematisieren hatte, sondern ein Unterhaltungsfilm, der sich auf Schwachstellen im Nebeneinander zwischen Ostbayern und Westböhmen fokussierte. Solche Hilfsmittel eignen sich nun mal besser für die dramatische Darstellung einer (fiktiven) Handlung, während Wirklichkeit nur in Ausschnitten und Teilaspekten abgebildet wird. Falls überhaupt. Diesen Anspruch hatte der Mehrteiler „Das Verschwinden“ jedoch. Zudem wurden Tschechinnen und Tschechen endlich einmal nicht als Mörder, Prostituierte oder Opfer dargestellt. Sie wurden auch nicht lächerlich gemacht, wie in mancher deutschen Komödie. Es wurde nicht einmal das Wort „Tschechei“ verwendet, wenn von der Tschechischen Republik geredet wurde. Das ist im Meer weitgehend seichter oder einseitiger Informationsvermittlungen über das Nachbarland nicht wenig.
Dass Fiktion und Vorurteile gerade im Zusammenhang mit Tschechien oft als wahr angenommen (und als Wahrheit akzeptiert) werden, war schon vor diesem Film so. Und wird es auch nach ihm bleiben.
„Markus von Liberec“
Geheimes oder Geheimnistuerei?