Die Rückkehr der gestohlenen Bücher
Die Nationalbibliothek hortet Tausende konfiszierte Bände. Jetzt machen Forscher ihre ursprünglichen Besitzer ausfindig
23. 3. 2016 - Text: Corinna AntonText: ca/čtk; Foto: knihyznovunalezene.eu
Millionen beschlagnahmter Bücher sammelten sich nach dem Zweiten Weltkrieg in der Tschechoslowakei. Manche hatten die Nationalsozialisten konfisziert und aus Deutschland evakuiert, andere nahmen die tschechoslowakischen Behörden den Sudetendeutschen auf Grundlage der Beneš-Dekrete ab.
Viele dieser Bücher landeten in der Nationalbibliothek in Prag – und blieben dort Jahrzehnte lang unbeachtet liegen. Nun will die Institution wissen, wem die Werke in ihrem Lager einst gehörten. Forscher suchten deshalb zunächst in fast 12.000 Bänden nach Stempeln, kleinen Zetteln und anderen Hinweisen auf die Namen der ursprünglichen Eigentümer. Erste Ergebnisse haben sie nun als virtuelle Ausstellung auf einer Internetseite veröffentlicht.
An dem Projekt arbeiteten Wissenschaftler aus Tschechien und Norwegen mit dem Ziel, die Werke und ihre Geschichte zu erforschen und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. So groß die Menge der Bücher ist, so unterschiedlich sind die Wege und die Gründe, weshalb sie in die Bestände der Nationalbibliothek gelangten. Einen Teil raubten die Nationalsozialisten denen, die sie als ihre Feinde betrachteten – Juden, Freimaurer, Kirchen und andere Institutionen. „Diese Bücher wurden zunächst in Berlin gelagert“, erklärt Marcela Strouhalová, Mitglied des Forscherteams. Von Berlin wurden diese Bücher nach Schlesien evakuiert, manche gelangten auch auf die Schlösser Houska, Mimoň, Nový Berštejn und Nový Falkenburk im Sudetenland, wo tschechoslowakische Beamte sie im Frühling und Sommer des Jahres 1945 fanden. „Mitarbeiter der National- und der Universitätsbibliothek sortierten sie dann nach ihrer Herkunft“, so die Wissenschaftlerin. Bücher, die zugeordnet werden konnten, schickte man zurück ins Herkunftsland. Nicht gekennzeichnete Bücher wurden nach Prag ins Klementinum gebracht. Doch auch ihre Besitzer konnten Forscher in den vergangenen Monaten zum Teil ermitteln.
Den Forschern zufolge erzählen die konfiszierten Bücher viele Geschichten – zum Beispiel vom Versuch der beiden totalitären Regime, unerwünschte Personen und ihre historischen Schriften zu vernichten. Sie gehörten aber nicht nur Opfern und Verfolgten, sondern auch Verbrechern, Mittätern und Unbeteiligten. So ist unter den etwa 2.000 ehemaligen Eigentümern, die bisher ausfindig gemacht wurden, zum Beispiel der österreichische Politiker und Journalist Engelbert Pernerstorfer (1850–1918). Seine Privatsammlung war nach seinem Tod Teil der Wiener „Bibliothek für Arbeiter und Angestellte“, die 1939 nach Berlin gebracht wurde. Um sie vor den Bombenangriffen zu schützen, transportierten die Nationalsozialisten einige Bücher 1944 nach Schlesien und ins Sudetenland, wo sie nach dem Krieg in vier Schlössern gefunden wurden.
Andere beschlagnahmte Bände stammen aus der Deutschen Ärztebücherei, die damals vermutlich die größte Sammlung medizinischer Fachliteratur in Deutschland war und 1945 in Berlin von der Roten Armee in Besitz genommen wurde. Manche dieser Bücher fanden die tschechoslowakischen Behörden später in Nový Bor. Zu den bisher identifizierten Besitzern gehören außerdem eine Vereinigung von Jurastudenten, die während des Krieges und ab 1948 verboten war, der österreichische Mediziner Karl Thums (1904–1971), der 1939 als NSDAP-Mitglied nach Prag kam, um an der Universität ein Institut für Eugenik zu gründen, und das Kuratorium für Jugenderziehung in Böhmen und Mähren, das 1942 eingerichtet wurde, um Zehn- bis 18-Jährige im Geiste des Nationalsozialismus auszubilden.
Die Forscher interessieren sich aber nicht nur für die Geschichten hinter den Büchern und den historischen Kontext; sie gehen auch ganz praktisch vor: Die Bände werden erstmals registriert, katalogisiert – und vor allem gesäubert. Denn die meisten liegen unter einer Jahrzehnte alten Staubschicht. Anschließend werden sie digitalisiert, um sie der Öffentlichkeit langfristig zugänglich zu machen. Bisher durften nur Mitarbeiter der Nationalbibliothek darin blättern, weil der rechtliche Status der Bücher nicht vollständig geklärt war.
Das Projekt, das im Januar 2015 begonnen hat, endet im Mai dieses Jahres. Unerforschte Bücher gibt es aber noch eine Menge. Experten schätzen, dass in tschechischen Institutionen bis zu 300.000 konfiszierte Bände liegen, die nicht nur Träger von Informationen, sondern auch Zeugen der Nachkriegszeit in Mitteleuropa seien. Die meisten davon wurden nicht von den Nationalsozialisten gestohlen, sondern auf Grundlage der Beneš-Dekrete nach Kriegsende beschlagnahmt.
Virtuelle Ausstellung: www.knihyznovunalezene.eu
„Markus von Liberec“
Geheimes oder Geheimnistuerei?