Die Salons der Liebe
Prostitution gab es in Prag schon immer. Eine Spurensuche in der Altstadt
15. 6. 2016 - Text: Katharina Wiegmann, Fotos: Reproduktionen aus „Nevěstince a nevěstky“ (Paseka Verlag, 2013)
Eine Gruppe wartet am Platz der Republik. Einige Frauen und Männer sehen in ihren Pumps und ordentlich gebügelten Hemden aus, als kämen sie gerade aus dem Büro; ein Pärchen hat einen Kinderwagen dabei. Nichts deutet darauf hin, dass Stadtführerin Dana Kratochvílová, die sich gerade ein Headset mit Mikrofon aufsetzt, zu einem ungewöhnlichen Spaziergang durchs Zentrum eingeladen hat. Für „Praha Neznámá“ („Unbekanntes Prag“) führt sie durch die ehemaligen „Liebessalons“ der Altstadt – eine beschönigende Umschreibung für Bordelle und Spelunken, in denen zumeist junge Frauen in früheren Zeiten ihre Dienste anboten.
Der Platz der Republik ist heute kein Ort der Promiskuität. Touristen auf Segways kreuzen vor dem Gemeindehaus, Händler verkaufen tschechische Spezialitäten, Teenager strömen ins Einkaufszentrum Palladium. Genau darauf lenkt Kratochvílová nach der Begrüßung die Aufmerksamkeit der Gruppe: Hinter der imposanten Fassade befand sich zur Zeit der Habsburger eine Kaserne. Und wo es Soldaten – oder Studenten – gab, blühte die Prostitution.
Anhand von historischen Dokumenten kann man die Geschichte der „käuflichen Liebe“ in Prag bis ins Mittelalter zurückverfolgen. Unter Karl IV. habe das Gewerbe eine Blütezeit erlebt, erzählt Kratochvílová. Am schlimmsten sei es in der heutigen Bartolomějská-Straße zugegangen; bis zu 300 Frauen sollen sich dort zeitweise gegen Bezahlung angeboten haben. Untersagt war Prostitution damals nicht. Von den Bordellen bezahlte Steuern und Mieten waren eine willkommene Einnahmequelle für die Stadt.
Das änderte sich, als sich die Syphilis im 16. Jahrhundert ausbreitete. Die Habsburger Ferdinand I. und Maria Theresia gingen als besonders engagierte Kämpfer gegen Prostitution in die Geschichte ein – es ging um Moral, aber vor allem um die Volksgesundheit. Seit 1873 wurden Gesundheitsbücher für Prostituierte ausgestellt, medizinische Untersuchungen zweimal pro Woche waren Pflicht.
Ganz verhindern ließ sich das Geschäft mit Sex aber nie, weder zu Zeiten Maria Theresias noch unter Präsident Tomáš Garrigue Masaryk. In der Ersten Tschechoslowakischen Republik wurde Prostitution als Ausdruck sozialer Not bekämpft und auf ihre Abschaffung hingearbeitet. Im sozialistischen Regime war sie schließlich offiziell verboten.
Vom Platz der Republik aus führt Kratochvílová durch die Passage in der Straße Revoluční. Erbaut in den Jahren 1928 und 1929 befand sich im Keller der Nummer drei der Club „Batex“ – einer der ersten Treffpunkte für Homosexuelle. Dort verkehrte die gehobene Gesellschaft; bei den Kartenspielen an den Tischen sei es oft um hohe Beträge gegangen, so die Stadtführerin.
Rotlichtviertel Josefstadt
Weniger fein ging es dagegen in der Rybná-Straße zu, die am anderen Ende der Passage liegt. Der Salon „U Napoleona“ zählte zu den wüstesten Etablissements der Stadt. „Nicht mal Betten gab es dort.“ Die Prostitution in Wein- und Kneipenkellern war vor allem in der Josefstadt, dem jüdischen Ghetto, weit verbreitet. Sie war so etwas wie der schmutzige Hinterhof der Altstadt, es herrschten Elend und miserable hygienische Zustände. Ab Mitte der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts wurden viele Gebäude abgerissen, das Viertel saniert und modernisiert. Die Zahl der registrierten Freudenhäuser sank von 86 um 1866 auf 31 im Jahr 1907.
Für die „gefallenen Mädchen“, wie die Sexarbeiterinnen bisweilen genannt wurden, gab es drei Möglichkeiten. In einem Bordell – oder Salon – verdienten sie bis zu 60 Kronen pro Kunde; weniger bekamen sie in den Lokalen, in deren Hinterzimmern einige Mädchen die Kneipengäste unterhielten. Meist waren die Frauen 15 bis 25 Jahre alt. Ältere Prostituierte landeten oft auf der Straße und mussten sich mit nur einer Krone für ihre Dienstleistungen zufriedengeben. Damit man sie erkannte, trugen sie keinen Hut und ihre Haare offen. Die Frauen in den Bordellen waren allerdings nicht zwingend in einer besseren Situation. Oft lebten sie unter schlimmsten Bedingungen und wurden von den Betreibern in Schulden getrieben.
An Beschreibungen der Freudenhäuser aller Klassen mangelt es in der Prager Literatur nicht. So haben der „Salon Loisitschek“ und seine Kundschaft einen Gastauftritt in Gustav Meyrinks „Golem“: „Schwaden beißenden Tabakrauchs lagerten über den Tischen, hinter denen die langen Holzbänke an den Wänden vollbesetzt von zerlumpten Gestalten waren: Dirnen von den Schanzen, ungekämmt, schmutzig, barfuß, die festen Brüste kaum verhüllt von missfarbigen Umhängetüchern. Zuhälter daneben mit blauen Militärmützen und Zigaretten hinter dem Ohr, Viehhändler mit haarigen Fäusten und schwerfälligen Fingern, die bei jeder Bewegung eine stumme Sprache der Niedertracht redeten, vazierende Kellner mit frechen Augen und blatternarbige Kommis mit karierten Hosen.“
Heute speisen im ehemaligen Loisitschek vorwiegend amerikanische Touristen in einem aufgeräumten Diner im Stil der sechziger Jahre. Alles ganz gesittet, zumindest bei Tag. Die nahe Dlouhá-Straße verwandelt sich am Abend in eine bunte Ausgehmeile, der Alkohol fließt in Strömen. Viele sind auch heute noch auf der Suche nach der Liebe – nach der wahren fürs Leben oder nach der käuflichen für eine Nacht.
Die Grenzen zwischen den Jahrzehnten und Jahrhunderten verschwimmen während der Stadtführung mit Kratochvílová. Energischen Schrittes lenkt sie die Gruppe durch schmale Gassen und Passagen, die die Straßen der Altstadt miteinander verbinden. In manchen Durchgängen scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Wäsche hängt auf den Balkons der sich eng und in verschiedenen Winkeln aneinanderschmiegenden Häuser und man ist überrascht: Gleich neben dem Altstädter Ring entfernt gibt es offenbar tatsächlich noch echtes Leben.
Kaiserlich königliches Bordell
Vom Glanz alter Zeiten ist in der Kamzíková-Straße allerdings nicht viel übrig geblieben. In der Nummer 543 gingen seit 1865 namhafte Gäste ein und aus, darunter angeblich Otto von Bismarck und Gustav Mahler, der im „japanischen Zimmer“ im Haus „U Červeného páva“ („Beim Roten Pfau“) sogar an seinen Kompositionen gearbeitet haben soll.
Der Schriftsteller Franz Werfel hat dem Edel-Bordell in seiner Novelle „Das Trauerhaus“ ein Denkmal gesetzt. „Der große Salon war durchaus feudal mit seiner goldbeladenen Renaissance, den gekrönten Spiegeln, roten Samtvorhängen und dem eisglatten intarsierten Tanzparkett. Wir haben es ja hier mit einem Etablissement zu tun, das die Bezeichnung ruhig ablehnen kann, die ihm ein ungegliederter und armseliger Sprachschatz verleiht. Zumindest aber müsste man dieser Bezeichnung ein k. k., ein kaiserlich königlich voranstellen, denn Plüschmöbel, Goldschnörkel, Spiegel, Samtvorhänge, die Stiche an den Wänden, die nicht nur heiter-dezente Liebesszenen, sondern auch Pferdewettrennen darstellten, die Prachtrenaissance eines hochnäsigen, damals schon lang verschollenen Jahrzehnts, das Kaiserbild in der Küche – aus all dem staubfangenden und schon leicht räudigen Glanz schaute der verlegene Blick der alten Doppelmonarchie den Betrachter an.“
Und wer waren all die unbekannten Frauen, die sich im Laufe der Zeit auf den Straßen und in den Salons der Stadt anboten? Nancy Wingfield schreibt in der „Enzyklopädie der Prostitution und Sexarbeit“ von Arbeitsmigrantinnen aus ländlichen Gegenden, Töchtern aus armen Familien und von Frauen, die sich neben ihren schlecht bezahlten Jobs als Näherinnen, Bardamen oder Haushälterinnen etwas dazuverdienten. Diese „Teilzeit-Prostituierten“ hätten einen Gegensatz zum Bild der „gefallenen Frauen“ dargestellt, die keine Chance hatten, in ein „normales Leben“ zurückzukehren.
Ihnen stattete einst auch der Journalist Egon Erwin Kisch einen Besuch ab. Mit bemerkenswerter Selbstironie erzählt er von seiner Recherche im Magdalenenheim, einem Asyl für ebensolche Damen. Durch lebhaftes Kopfnicken teilte er die Verachtung, die die Anstaltsleitung den gefallenen Mädchen entgegenbrachte – aber noch mehr den Männern, „die die Verkommenheit und Rohheit aufbringen, sich um des Vergnügens willen mit jungen Mädchen einzulassen, ohne die Absicht zu haben, diese zu ehelichen.“ Als er schließlich mit der Vorsteherin in die Stickereistube eintrat, wurde er von den Insassinnen mit lautem Hallo und seinem Namen begrüßt. „Egon, hast du nicht eine Sport bei dir, wir kriegen hier keine“, rief eine. Und: „Grüß mir das Café Brasilien und sag, dass ich in vierzehn Tagen wieder dort bin!“
Über den Salon Gogo, wie das Bordell im „Roten Pfau“ auch genannt wurde, schrieb Franz Werfel, dass es neben der Tanzschule des Herrn Pirnik und der Konditorei Stutzig keinen anderen Ort gegeben habe, der den „hochoffiziösen Charakter“ der Habsburger Monarchie bis in den Krieg hinein so rein bewahrt habe. „Es ist, wie ich glaube, als letztes verschwunden.“
Auf unbestimmte Zeit verschoben
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