Die späten Wunden der Okkupation
Vor 25 Jahren wurde der Abzug der sowjetischen Truppen beschlossen. Städte kämpfen bis heute mit den Hinterlassenschaften der Besatzer
4. 3. 2015 - Text: Corinna AntonText: ca/čtk; Foto: ČTK/Libor Zavoral
Eduard Vorobjov war der letzte, der ging. Der sowjetische General verließ die damalige Tschechoslowakei im Juni 1991, fast eineinhalb Jahre nachdem der Abzug der Besatzungstruppen beschlossen worden war. Nach dem Ende des kommunistischen Regimes war das Verschwinden der sowjetischen Truppen eine der ersten Forderungen der Öffentlichkeit gewesen. Am 26. Februar 1990 unterzeichneten der damalige Außenminister Jiří Dienstbier und sein sowjetischer Amtskollege Eduard Schewardnadse in Moskau ein entsprechendes Abkommen. Als wenige Tage später der Abzug begann, befanden sich in der Tschechoslowakei 73.500 Soldaten und fast 40.000 Familienangehörige. Die Ausrüstung bestand unter anderem aus 1.220 Panzern, 2.505 Kampffahrzeugen, 76 Flugzeugen und 146 Hubschraubern. Der Rücktransport der Truppen und Geräte dauerte bis zum 21. Juni 1991. Sechs Tage darauf ging auch der damalige Oberbefehlshaber Vorobjov.
Begonnen hatte die sowjetische Besatzung mit dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts am 21. August 1968. Bis dahin war die Tschechoslowakei das einzige Land des damaligen Ostblocks gewesen, in dem keine sowjetischen Soldaten stationiert waren. Nun wurde mit Hilfe von anfangs etwa 100.000 Soldaten der Prager Frühling gewaltsam beendet, später stieg die Zahl der sowjetischen Armeeangehörigen im Land auf bis zu 750.000. Knapp zwei Monate nach dem Einmarsch wurde deren Aufenthalt per Vertrag legalisiert. Für dessen Annahme stimmten 228 Abgeordnete der Nationalversammlung. Zehn enthielten sich, vier votierten dagegen. Dem Dokument zufolge sollte ein Teil der Truppen vorübergehend auf dem Territorium der Tschechoslowakei verbleiben, um die „Sicherheit der Länder der sozialistischen Gemeinschaft“ gegen die „revanchistischen Bestrebungen westdeutscher militaristischer Kräfte“ zu verteidigen. Zu den Gebieten, über welche die Armee zu diesem Zweck vollständig verfügte, gehörten unter anderem die Übungsgelände Mimoň-Ralsko in Nordböhmen, Libavá nahe Olomouc und Boletice in Südböhmen sowie ein Areal nahe Milovice bei Prag. Ende der achtziger Jahre waren sowjetische Soldaten an insgesamt 67 tschechischen und 16 slowakischen Standorten untergebracht.
Ein Vierteljahrhundert nachdem der Abzug der Truppen beschlossen wurde, ist das Erbe der Besatzer in vielen dieser Städte und Gemeinden deutlich sichtbar, sie kämpfen mit Altlasten im Boden oder fehlender Infrastruktur – wie zum Beispiel die nordböhmische Kleinstadt Ralsko. Die Zahl der Einwohner stieg dort nach dem Abzug der sowjetischen Truppen auf das Vierfache. Derzeit leben im Ort etwa 2.100 Menschen, sagt die Statistik, Schätzungen des Rathauses zufolge sollen es mehr als 3.000 sein. Zur Arbeit, zur Schule oder zum Einkaufen müssten die meisten aber anderswo hinfahren, erklärt Bürgermeister Miroslav Králík (ČSSD). Denn es fehle an Infrastruktur. Dass die Quote der Erwerbslosen nicht mehr als zehn Prozent betrage, verdanke die Stadt vor allem ihrer Nähe zu Mladá Boleslav und Česká Lípa.
Hoffung auf neue Einwohner
Das ehemalige Armeegelände, das denselben Namen trägt wie die Stadt, erstreckt sich über 250 Quadratkilometer. Die Sowjets nutzten es bis Anfang der neunziger Jahre. Schwierigkeiten bereitet den Verantwortlichen in Ralsko auch der ehemalige Militärflughafen Hradčany. Dort waren Boden und Grundwasser nach dem Abzug der Besatzer kontaminiert. Für die Sanierung hat der Staat bereits eine halbe Milliarde Kronen gezahlt, seit 2004 gehört das Gelände dem Kreis Liberec. „Ich sehe in dem ehemaligen Armeegelände ein großes Entwicklungspotenzial, bisher konnten wir es aber noch nicht abrufen“, sagt Kreishauptmann Martin Půta (STAN). 25 Jahre nachdem die Vereinbarung über den Abzug der Truppen unterschrieben worden ist, seien die Begeisterung und der Optimismus verschwunden. „Man erwartete, dass die Truppen abziehen und das Areal schnell genutzt werden kann, dass Investoren kommen und das Gebiet besiedelt werden kann“, so Půta. Dass daraus nichts wurde, daran sei auch die missglückte Privatisierung Schuld.
Bürgermeister Králík dagegen glaubt, dass sich die Lage im Ort zum Besseren wende. Im November vergangenen Jahres begann im Industriegebiet der Automobilzulieferer KV Final mit dem Bau eines Werks. Schon Ende dieses Jahres sollen dort bis zu 100 Angestellte eine Beschäftigung finden, langfristig sogar 300. „Es melden sich auch andere Investoren“, so Králík. Derzeit sind in Ralsko 144 Menschen ohne Arbeit, offene Stellen gibt es nur sechs. Der Bürgermeister hofft, dass neue Jobmöglichkeiten auch neue Einwohner bringen. Deswegen will er einen Kindergarten und eine Grundschule bauen, weitere Wohnungen, die von den Sowjets zurückgelassen wurden, sollen renoviert und die Verkehrsanbindung der Orte an den Rest des Kreises verbessert werden.
Neben den Problemen mit der Infrastruktur lässt sich in Ralsko aber auch eine ganz andere Spätfolge der Besatzung beobachten. Auf dem Militärgelände, das lange Zeit Sperrgebiet war, konnte sich die Natur viele Jahre fast ungestört entfalten. Mittlerweile führen in Ralsko wie auch anderswo ausgewiesene Wander- und Fahrradwege durch beeindruckende Landschaftsbiotope, die sich im Laufe der Jahre während und nach der Besatzung ganz unbemerkt entwickelt haben.
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