„Die tschechische Demokratie ist pubertär“
Schriftstellerin Kateřina Tučková über Singvögel unter Tage, fehlende Kulturförderung und die Rückkehr der Tschechen aus dem Privaten
3. 7. 2013 - Text: Klaudia Hanisch
In der Gesprächsreihe „20 Jahre Tschechien – Eine Inventur“ lässt die „Prager Zeitung“ herausragende Meinungsführer Bilanz ziehen. Wo steht Tschechien 20 Jahre nach der Staatsgründung? Im sechsten Teil der Reihe sprach PZ-Mitarbeiterin Klaudia Hanisch bei einer Kanne Ingwertee mit Kateřina Tučková. Die Schriftstellerin und Kuratorin steht für eine junge Generation, die sich für eine Aufarbeitung der Geschichte des deutsch-tschechischen Zusammenlebens stark macht. In Deutschland sei das schon geschehen, meint Tučková.
Frau Tučková, Sie sind nicht nur Schriftstellerin, sondern auch Kuratorin für moderne Kunst. Man sagt, Kulturschaffende sind wie Taschendiebe: Sie sehen die Momente öffentlicher Unaufmerksamkeit und machen sie sichtbar. Worauf möchten Sie aufmerksam machen?
Kateřina Tučková: In Tschechien sagt man auch, Künstler sind wie Singvögel im Bergwerk: Sie reagieren als erstes, wenn etwas schiefläuft. Die Singvögel waren früher eine Art Frühwarnsystem unter Tage: Sie fingen an zu zwitschern, wenn Giftgase ausgetreten sind, mit ihrem Gesang warnten sie die Kumpel vor der Gefahr. Mich ärgert, dass die Kultur hierzulande eine marginale finanzielle Unterstützung erhält. In Tschechien verwechselt man Kultur mit Unterhaltung und argumentiert, sie sollte sich selbst finanzieren können. Die jungen Künstler, mit denen ich arbeite, stehen erst am Anfang ihrer Karriere. Ohne finanzielle Unterstützung ist die Arbeit mit ihnen quasi unmöglich. Es gibt keine Organisationen oder Sponsoren, die sie fördern würden. Macht es nicht der Staat, dann macht es keiner.
Was sollte der Staat Ihrer Meinung nach konkret tun?
Tučková: Ein Prozent des Haushalts sollte in die Kulturförderung gehen. Ein großer Teil davon sollte der sogenannten lebendigen Kunst zur Verfügung gestellt werden (im Tschechischen wird „lebendige Kunst“ (živé umění) als Sammelbegriff für visuelle und performative Kunst verwendet; Anm. d. Red.). Aus der Perspektive der Schriftstellerin wäre es wichtig, die Mehrwertsteuer für Bücher zu senken, die in den letzten Jahren mehrmals erhöht wurde. Die Bücherpreise steigen und die Leser kaufen weniger. Dabei wollen wir eine gebildete Gesellschaft sein.
Gibt es hier in Tschechien eine einflussreiche Szene, die neben ihren künstlerischen Visionen auch eine gewisse politische Agenda verfolgt?
Tučková: Es gibt mehrere Netzwerke, sowohl in Prag als auch in Brünn. Aber man kann nicht von einem wichtigsten sprechen. Solche Szenen bilden sich etwa um die Kunstzentren MeetFactory, Karlín Studios, Tranzitdisplay, Trafačka. Im literarischen Kreisen versammelt man sich um das Café Fra – das ist gleichzeitig ein Buchladen – und um die Václav-Havel-Bibliothek. Das sind Orte, an denen sich sozial engagierte Autoren treffen, denen die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, in denen wir leben, nicht egal sind.
Welche Rolle spielen moderne Künstler und Schriftsteller eigentlich im tschechischen Schulunterricht?
Tučková: In der Schule endet der Geschichts- und Tschechischunterricht oft mit dem Jahr 1945. Was danach kommt, lernt man erst im Studium. In meiner Schulzeit in den neunziger Jahren war ich nur auf einer einzigen literarischen Lesung, und zwar alleine. Ich habe damals einen Schreibwettbewerb gewonnen. Der Preis war ein Treffen mit einem Schriftsteller, was heute ein wenig absurd erscheint. Dennoch bin ich sehr dankbar dafür, weil es mein Leben verändert hat. Ich habe gesehen, dass Schriftsteller wirklich existieren, dass sie keine Außerirdischen sind (lacht) und sympathische Menschen sein können. Etwa seit der Jahrtausendwende änderte sich die Situation. Ich beobachte auch in Schulen ein steigendes Interesse, Schriftsteller zu Lesungen einzuladen, zumindest solche Schriftsteller wie mich. Ich schreibe Bücher, in denen die Neueste Geschichte eine große Rolle spielt. Ich kann also zwei Fächer auf einmal vertreten. Deshalb laden sie mich ein, vor allem mit dem Buch „Die Vertreibung der Gerta Schnirch“ bin ich sehr oft an Schulen.
Mit dem Buch waren Sie auch in Deutschland. Wie wurde es dort aufgenommen?
Tučková: Ganz anders als in Tschechien. Das Buch wurde hierzulande kontrovers aufgenommen. Ich habe oft Vorwürfe gehört: Wie konnte ich nur ein Buch über den Krieg schreiben, den ich nicht selbst erlebt habe und noch dazu aus der Perspektive einer Deutschen. Die Deutschen waren doch unsere Feinde…
Gerta war doch halb Tschechin…
Tučková: Ganz genau. In Deutschland ist die Stimmung eine ganz andere. Zu den Lesungen kommen auch ältere Leute, Zeitzeugen, die selbst von den Beneš-Dekreten betroffen waren. Nirgends habe ich gehört, dass jemand sein hinterlassenes Eigentum wiederbekommen möchte. Diese Leute haben sich damit abgefunden. Was sie sich jedoch wünschen, ist die Anerkennung, dass auch ihnen Unrecht geschehen ist. Die mittlere Generation kommt aus Interesse: Das Trauma der Vertreibung ist ein Teil ihrer Familiengeschichte und sie möchten mit jemandem darüber sprechen, der kein Familienmitglied ist. Die junge Generation interessiert das Thema eigentlich nicht. Bis jetzt hat sich auch kein Verlag gefunden, der das Buch ins Deutsche übersetzen will. Für den deutschen Büchermarkt ist das Thema angeblich passé.
Warum denken Sie, interessiert es die Jungen nicht?
Tučková: Ich habe am Schriftsteller-Austausch „Literarisches Tandem“ teilgenommen. Ich hatte zwei Monate lang die Schriftstellerin Peggy Mädler in Brünn zu Gast, danach war ich zwei Monate bei ihr in Berlin. Wir zeigten uns gegenseitig unser Lebensumfeld. Es stellte sich heraus, dass viele Berliner meiner Generation der Meinung sind, Deutschland habe die Frage der Schuld am Zweiten Weltkrieg aufgearbeitet. Dass in anderen Ländern ähnliche Prozesse ablaufen, erwarten sie gar nicht. Sie verkörperten die Einstellung, dass wir eher in die Zukunft sehen müssen, und zwar gemeinsam.
Bei den Präsidentschaftswahlen hat die Vertreibung der Sudetendeutschen eine entscheidende Rolle gespielt. Hat Sie das überrascht?
Tučková: Ja, ich war überrascht, dass die deutsch-tschechischen Beziehungen immer noch so missverstanden werden. Als Miloš Zeman im Präsidentschaftswahlkampf dieses Motiv aufwarf, kam bei vielen ein altes Schwarz-Weiß-Denken ans Licht. Das Thema ist ein tschechisches Schreckgespenst. Viele haben das Gefühl, hinter der Grenze lauern Deutsche, die jederzeit ihr verlorenes Eigentum zurückfordern könnten. Als ich noch während meines Studiums an „Die Vertreibung der Gerta Schnirch“ gearbeitet habe, habe ich mich mit dem Thema der deutsch-tschechischen Beziehungen im 20. Jahrhundert intensiv beschäftigt. Das Thema ist viel komplexer, als man es in Tschechien wahrhaben will. Es kam auf tschechischer Seite zu Exzessen, die man bis heute nicht aufgearbeitet hat.
Bedarf es einfach nur Zeit, um die Wunden zu heilen?
Tučková: Die junge Generation hat eindeutig bessere Voraussetzungen, um sich diesen Fragen zu öffnen. Die Sprachbarrieren werden kleiner. Die Grenzen haben nicht mehr die gleiche Bedeutung wie vorher. Das Reisen und die Kenntnis von einer bis zwei Fremdsprachen sind völlig selbstverständlich geworden. Man merkt, dass der Horizont ein anderer ist. Die Generation meiner Großeltern und Eltern dachten im Kontext ihres nächsten Umfelds. Das Blickfeld war begrenzt.
Unsere Gesprächsreihe trägt den Titel „20 Jahre Tschechien – Eine Inventur“. Wo sehen Sie den größten Erfolg und die größte Niederlage der letzten zwanzig Jahre in Tschechien?
Tučková: Ich fange mit dem Positiven an: Es steigt das Interesse für allgemeine gesellschaftliche Probleme. Die Leute engagieren sich mehr. Verglichen damit, wie meine Eltern und mein Umfeld in Südmähren die Geschehnisse von 1989 wahrgenommen haben, nämlich mit absolutem Desinteresse, sind wir heute ein gutes Stück weiter. Sie wussten nicht einmal, dass etwas Großes passiert ist. In der Zeit der Normalisierung haben sie sich in ihr Privatleben zurückgezogen. Die Kehrseite der Medaille ist, dass viele Leute, die sich engagieren, anfangen zu lügen, sich kaufen lassen, seltsame Deals eingehen. Aber ich glaube, das liegt daran, dass wir noch keine allzu reife Demokratie sind. Die tschechische Demokratie wirkt manchmal wie ein pubertierender Teenager.
Zur Person
Kateřina Tučková wurde am 31. September 1980 in Brünn geboren. Aufgewachsen ist sie im südmährischen Örtchen Moutnice. Tučková studierte Kunstgeschichte und Tschechisch an der Philosophischen Fakultät der Masaryk-Universität in Brünn. Derzeit promoviert sie in Kunstgeschichte an der Karls-Universität in Prag. In ihrer Dissertation analysiert sie die Künstlergruppe „Radar“. Als Kuratorin möchte sie jungen Künstlern den Karrierestart erleichtern. Bekannt wurde sie als Autorin der preisgekrönten historischen Romane „Vyhnání Gerty Schnirch“ („Die Vertreibung der Gerta Schnirch“) und „Žítkovské bohyně“ („Die Göttinnen von Schitkowa“). Tučková reist viel, dennoch bleibt in ihrem literarischen Schaffen das Dorfleben in der mährischen Provinz eine der wichtigsten Inspirationsquellen.
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