Die Verwandlung
Cosplay ist Kostümwettbewerb und Rollenspiel in einem. Unterwegs mit einem Prager She-Hulk
27. 4. 2016 - Text: Katharina Wiegmann
Marie Tsivosová steht in einer Ecke des ehemaligen Güterbahnhofs in Žižkov. Viele Menschen verirren sich nicht auf das heruntergekommene Gelände. Ein paar Arbeiter und Kunden der in den weitläufigen Hallen untergebrachten Möbellager fahren vorbei. Ungerührt wühlt Marie abwechselnd in ihrem Rucksack und einer großen Papiertüte. Körperfarben, Schminke, eine Perücke kommen zum Vorschein. Die Verwandlung beginnt. Aus der 26-Jährigen wird Red She-Hulk, eine Heldin aus dem Comic-Universum „Marvel“. Marie ist Teil der tschechischen Cosplayer-Szene, die sich auf Veranstaltungen für Science-Fiction-, Comic- und Fantasy-Fans trifft – sogenannten Conventions.
Auf dem Festival „Fantazie“ in Chotěboř, dem Animefest in Brünn oder dem Pragofest präsentieren die Cosplayer selbstgemachte Kostüme ihrer Lieblingscharaktere und versuchen sich gegenseitig mit möglichst authentischen Darstellungen von Hank McCoy, Iron Man oder Poison Ivy zu überbieten.
Marie trägt konzentriert rote Farbe auf Gesicht und Dekolleté auf. Danach zieht sie ihren weiten Rock mit Blumenmuster aus, unter dem sie einen engen schwarzen Einteiler trägt. Ihre Stirn und die Mundpartie spannen sich an. Die Show beginnt – heute nur für den Fotografen, die Journalistin und ein paar Bauarbeiter, die höflich fragen, bevor sie Marie mit ihren Handys ablichten. Der verlassene Güterbahnhof mit den Ruinen neben der Einfahrt ist die perfekte Kulisse. Red She-Hulk zerstört gerne mal Gebäude.
„Ich suche mir starke, schöne Frauen für meine Cosplays aus, die gut kämpfen können“, sagt Marie. „Ich will mich mit ihnen identifizieren können.“ Marie hat früher den philippinischen Kampfsport Escrima betrieben. Bewegungen, die sie dort gelernt hat, setzt sie heute bei ihren Cosplays ein. Die Fotoshootings und Wettbewerbe bei den Veranstaltungen der Comic- und Fantasie-Fans machen aber nur einen kleinen Teil dessen aus, wofür sich Marie und ihre Freunde begeistern. „Cosplayer sind vor allem Bastler.“ In der Szene gebe es immer wieder hitzige Debatten darüber, ob man sein Kostüm komplett selber anfertigen müsse – oder ob es in Ordnung sei, zumindest Teile davon zu kaufen.
Maries Verkleidungen sind meistens eine Mischform. Für ihre Poison Ivy kaufte sie einen Badeanzug und nähte anschließend Efeublätter daran. In Prag bietet das Café Geekarna Workshops für diejenigen an, die zum Beispiel Hilfe dabei benötigen, ihr Kostüm mit Leuchtdioden zu verzieren. Cosplayer, die es ernst mit ihrem Hobby meinen, investieren viel Zeit und manchmal auch Geld. „Ich kenne einen Darth Vader, dessen Verkleidung noch nicht mal ganz fertig ist, der aber schon 60.000 Kronen ausgegeben hat“, sagt Marie.
Geschenke und ein Lächeln
Die Mitglieder von Lion Base haben sich ausschließlich auf Kostüme aus dem Star-Wars-Universum spezialisiert und sind Teil der internationalen Gruppe Rebel Legion. Auch sie nehmen regelmäßig an den tschechischen Conventions teil. Darüber hinaus folgen sie dem Vorbild der amerikanischen Rebel-Legion-Gründer und engagieren sich als Luke Skywalker, Leia oder Klonkrieger für einen guten Zweck, wie Vlastimil Sprta erzählt; „Wir arbeiten mit dem Krankenhaus Motol zusammen. Alle paar Monate besuchen wir dort eine andere Abteilung und bringen den Kindern Geschenke – und ein Lächeln.“ Die meisten Lion-Base-Mitglieder sind seit ihrer Kindheit Star-Wars-Fans und „fasziniert von dem märchenhaften, wunderschönen Universum, das George Lucas geschaffen hat“, wie Sprta sagt. „Diese Magie tragen wir immer noch in uns.“
Neben der spielerischen hat Cosplay aber auch eine kommerzielle Seite, erzählt Marie. Manche Kostümfans seien international so bekannt, dass sie vom Cosplay leben können. Ihre Facebook- und Instagram-Follower bezahlen auf Conventions für gemeinsame Fotos und kaufen Fan-Artikel. Weniger berühmte Cosplayer werden zumindest manchmal für Veranstaltungen wie Firmen- oder Geburtstagsfeiern engagiert. Als Pocahontas war Marie kürzlich bei einer Ladeneröffnung in Olomouc.
Einen Einblick in die tschechische Cosplay-Gemeinschaft gewährt eine Dokumentation des Tschechischen Fernsehens. Auch Marie hat darin einen kurzen Auftritt. Wie würde sie die heimische Szene beschreiben? „Die Leute sind hier sehr kritisch und es wird viel gelästert. Aber tschechische Cosplayer sind ziemlich gut. Tschechen arbeiten bei den Kostümen sehr detailgetreu.“
Einer der Protagonisten des Films ist Ondřej Hercík. Die Kamera folgt ihm beim Einkaufen im Baumarkt und zeigt ihn zu Hause beim Schweißen von Handschuhen für ein Iron-Man-Kostüm. Seinen Darth Vader hat er bis zum rasselnden Atem perfektioniert.
Sucht und Flucht
Von außen betrachtet wirkt es mitunter befremdlich, wie enthusiastisch sich die Erwachsenen in die fantastischen Parallelwelten ihrer Comichelden stürzen. Warum macht man so etwas? „Man muss Maler sein, Schneider, Friseur, Schauspieler, Elektriker …“, erzählt ein Cosplay-Paar. Andere sprechen von einer „Sucht“ und für manche spielt die Flucht aus der Realität eine Rolle.
Ondřej Hercík ist im normalen Leben „ein typischer Krawattenträger“, wie er sagt; Marie hat gerade ihr Studium der Landschaftsarchitektur abgeschlossen und arbeitet in Prager Hotels. Cosplay ist nicht ihr Leben, es ist schlicht ein Hobby. Comics liest sie seit ihrer Kindheit, mit 13 Jahren ging sie das erste Mal zu einer Convention. Als sie mit 18 Jahren ihren ersten Auftritt als Poison Ivy hatte, war sie schon ein fester Teil der Szene. „Ich kannte die Leute im Publikum und war überhaupt nicht nervös.“ Die Gemeinschaft ist ein wichtiger Aspekt. „Auf den Conventions bin ich Teil des Programms, alleine dadurch, dass ich da bin. Treffe ich Figuren aus meiner Comic-Welt, machen wir Bilder zusammen oder kämpfen gegeneinander.“
Maries Kostümierungen als Poison Ivy, Zatanna oder Elektra haben eine Gemeinsamkeit: Sie zeigen viel von ihrem Körper und betonen Partien, die weniger selbstbewusste Frauen wahrscheinlich nicht gerne zeigen würden. Hat Cosplay eine erotische Komponente? „Das fragen immer alle. Ich ziehe mich gerne sexy an. Aber ich kenne viele andere, die das nicht machen. Meine Charaktere sind in den Comics so gezeichnet. Die Leute, die sich wie Figuren aus Game of Thrones anziehen, sind alle komplett bedeckt. Ich habe kein Problem mit freizügigen Kostümen, andere schon.“ Neben Cosplay begeistert sich Marie auch für Bodypainting – und vor allem für Poledance.
Marie fühlt sich rundum wohl in ihrem Kostüm. „Wisst ihr was? Eigentlich könnte ich immer so rumlaufen“, sagt sie auf dem Weg zur Straßenbahn. Erstaunlich wenig Leute bleiben stehen und starren sie an – vielleicht gerade weil der knallrote She-Hulk sich wie selbstverständlich durch die Straßen Žižkovs bewegt. Lediglich ein anerkennendes „Hezký, vole!“ („Schön, Alter!“) raunt jemand. Marie spielt ihre Rolle eben gut.
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