Die Welt aus Tausendundeinem Winkel

Die Welt aus Tausendundeinem Winkel

Das Museum Kampa eröffnet eine Ausstellung zum 100. Geburtstag des Künstlers Jiří Kolář

17. 9. 2014 - Text: Sabina PoláčekText: Sabine Poláček; Foto: Oto Palán, Museum Kampa

 

„Ein gut durchfeuchtetes Papier zu zerknüllen, schafft ein Jeder. Falls nicht, so reicht es, eine Seite einer Zeitschrift im Regen auf den Gehsteig zu werfen. Der Regen und die Fußspuren der Passanten oder der Autoreifen machen das für ihn.“ So beschreibt Jiří Kolář eine seiner berühmten Collage-Techniken „Muchlage“ (vom tschechischen Wort „zmuchlat“ für „zerknüllen“). Am 24. September wäre der 2002 verstorbene Künstler hundert Jahre alt geworden. Aus diesem Anlass zeigt das Prager Kampa-Museum vom 23. September bis 18. Januar eine umfassende Ausstellung.

Die Sammlung seiner Collagen wurde der Prager Öffentlichkeit zum ersten Mal 1994 präsentiert. Zwanzig Jahre später macht das Kampa-Museum über hundert seiner bedeutendsten Kunstwerke zugänglich. Der größte Teil der Sammlung stammte aus Kolářs erster Ausstellung im New Yorker Guggenheim-Museum aus dem Jahr 1975. Dank des damaligen Direktors Thomas Messer, der in der damaligen Tschechoslowakei aufgewachsen war, konnten die Kunstsammler Jan Mládek und Meda Mládková die Collagen erwerben. Diese hat Mládková 2003 auf Wunsch ihres verstorbenen Mannes der Stadt Prag vermacht – neben weiteren Sammlungen von František Kupka und Otto Gutfreund.

Durch den langjährigen persönlichen Kontakt zu Jiří Kolář kamen stetig neue Objekte hinzu, sodass die Sammlung des Ehepaars Mládek auf über 240 Werke anwuchs. Das Prager Museum zeigt daher neben den Exponaten des Guggenheim-Museums auch mehrere Werke aus der Sammlung der Mládeks. „Die Ausstellung konnte also die ursprüngliche Konzeption des Guggenheim-Museums nicht vollkommen berücksichtigen“, sagt Kurator Jiří Machalický. „Die Objekte, die damals im Guggenheim-Museum ausgestellt waren, sind jedoch explizit gekennzeichnet.“

Auf der Suche nach Neuem
Die Exponate sind in den vierziger bis siebziger Jahren entstanden – ein Zeitraum, der Kolářs künstlerische Entwicklung besonders beeinflusste. „Insbesondere die Endphase der fünfziger sowie die sechziger Jahre gelten als die wichtigsten Abschnitte. Denn in dieser Zeit entwickelte Kolář die neuen und von ihm benannten Collage-Methoden wie Muchlage, Prollage, Rollage, Stratifien, Chiasmage, Anti-Collage, Konfrontage oder Raportage, denen er sich eine lange Zeit widmete“, erklärt der Kurator.

Geprägt vom tschechischen Kubismus und Surrealismus, blieb Jiří Kolář bei seiner Collage-Technik, weil – wie er selbst einmal sagte – viele Maler schnell zur Ölmalerei übergingen. Unentwegt war der Bäckersohn aus dem südböhmischen Protivín auf der Suche nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten. Auf Flohmärkten in Prag und im Exil in Paris fand er für seine Chiasmage-Technik eine Fülle von Briefen, historischen Karten, Stoffproben oder Schachbüchern und experimentierte gerne mit Bildern, Mustern und Buchstaben. Durch Zerreißen, Zerschneiden und Zerknüllen dekonstruierte er ursprüngliche Motive und setzte sie neu zusammen, jedoch aus einem anderen Blickwinkel heraus.

Kolář verwendete außerdem Reproduktionen bekannter Künstler, die er verfremdete, indem er sie in Streifen oder Vierecke zersägte. Sogar Haare, Seile, Schallplatten oder Rasierklingen dienten seiner ungewöhnlichen Kunst. Dazu zählen auch Objekte wie Äpfel in verschiedenen Größen, die er für seine Chiasmagen mit Papierausschnitten beklebte. „Die Chiasmage hat mir die Möglichkeit gegeben, mich und die Welt aus Tausendundeinem Winkel zu sehen“, sagte Jiří Kolář damals. Aufgrund seines Ideenreichtums und seiner Experimente entstand ein vielschichtiges Werk, das in Tschechien und vor allem im Ausland hohe Beachtung fand.

Jiří Kolář – 100 let od narození, U Sovových mlýnů 2, Prag 1 – Malá Strana, geöffnet: täglich 10 bis 18 Uhr, www.museumkampa.cz

 

 

Zur Person
Jiří Kolář wird am 24. September 1914 in Protivín bei Písek als Sohn eines Bäckers geboren. Im Laufe der Jahre übt der gelernte Tischler verschiedene Berufe aus – vom Nachtwächter bis zum Zeitungsredakteur. Sein Interesse für Collagen wird 1934 geweckt. Schon bald darauf findet seine erste Ausstellung im Prager Mozarteum statt. 1942 zieht er von Kladno nach Prag und entdeckt die Liebe zur Poesie. Nach dem Krieg gehört er zu den Mitbegründern der „Gruppe 42“, einer Vereinigung von Künstlern und Literaten, und erhält wegen seiner Kritik am kommunistischen Regime Publikationsverbot. 1953 wird er als Verlagsredakteur beim Genossenschaftsverband „Dílo“ entlassen, neun Monate lang inhaftiert und kommt dank einer Amnestie frei. Er verfasst weiterhin Verse und Theaterstücke. Die sechziger und siebziger Jahre sind von vielen Auslandsreisen geprägt. Nach Ausstellungen in London und Kassel (documenta IV und VI) erhält er den ersten Preis der X. Biennale in São Paolo sowie den Herder-Preis. Im Jahr 1977 gehört er zu den Mitunterzeichnern der Charta 77. Als er ein DAAD-Stipendium in Berlin annimmt, emigriert er 1980 nach Paris und wird französischer Staatsbürger. Erst zehn Jahre später reist er wieder nach Prag, erhält seine tschechische Staatsbürgerschaft zurück und wird offiziell rehabilitiert. Auf die Frage, warum er nach Tschechien zurückgekehrt sei, antwortet der Künstler 2001 in einem Interview: „Hier liegt meine Familie begraben. Es ist meine Heimat, meine gestohlene Heimat. Außerdem haben mir die Ärzte nach meinem zweiten Schlaganfall empfohlen, wieder Tschechisch zu sprechen, damit mein Gedächtnis schnell zurückkehrt. Auch deshalb bin ich hier.“ Jiří Kolář stirbt am 11. August 2002 in Prag. Sein vielseitiges Werk wird in bekannten Museen ausgestellt wie dem Guggenheim-Museum in New York oder dem Centre Pompidou in Paris. Er zählt zu den bedeutendsten tschechischen Künstlern des 20. Jahrhunderts.   (sp)