Die zweite Fackel

Die zweite Fackel

Vor 45 Jahren, am 25. Februar 1969, zündete sich Jan Zajíc selbst an – damit Palachs Tat nicht in Vergessenheit gerät

19. 2. 2014 - Text: Marcus HundtText: Marcus Hundt; Foto: sergejf

 

Die Nachricht vom Tod des jungen Studenten, der sich auf dem Prager Wenzelsplatz selbst verbrannt hatte, war für Jan Zajíc wie ein Weckruf. Er packte seine Sachen und machte sich auf zum Bahnhof. Er wollte in die Stadt, in der Jan Palach mit seiner Tat am 16. Januar 1969 ein Zeichen gesetzt hatte: gegen die gewaltsame Niederschlagung des Prager Frühlings, gegen das jähe Ende eines „demokratischen Sozialismus“, gegen das Diktat der Sowjetunion. Zajíc sah das genauso. Lohnte es sich denn nicht, für die unter Dubček im Frühjahr 1968 eingeleiteten Reformen und die neu gewonnenen Freiheiten zu kämpfen?

Vier Stunden fuhr er im Zug aus dem nordmährischen Šumperk, wo der damals 18-Jährige die Industrieschule besuchte, nach Prag. Zusammen mit ein paar Mitschülern nahm er unterhalb des Nationalmuseums, dort wo sich der nur zwei Jahre ältere Palach kurz zuvor verbrannt hatte, an einem Hungerstreik teil. Eine Woche später, am 25. Januar, wurde der Streik aufgelöst – zum Unmut von Jan Zajíc. Es war der Tag, an dem Tausende Tschechoslowaken durch die Prager Innenstadt zogen und von Jan Palach Abschied nahmen. Der Trauerzug verwandelte sich in eine Demonstration der Massen.

Mit diesen Eindrücken kehrte Zajíc in die mährische Provinz zurück. „Die Augen wie durchbrochene Dämme. Ich weine – im Regen – auf dem Gehweg. Alles beweine ich: die einundzwanzig Jahre, die von fremden Soldaten niedergetretene Frühlingsblüte, den Menschen, der ein Zurück ablehnte. Es ist Januar 69.“ Das Gedicht widmete er der „ersten Fackel“, als die sich Jan Palach in seinem Abschiedsbrief selbst bezeichnet hatte. Jan Zajíc sollte als „zweite Fackel“ in die Geschichte eingehen. Am 25. Februar 1969, einen Monat nach der Beisetzung Palachs und 21 Jahre nach der kommunistischen Machtübernahme in der Tschechoslowakei setzte er sich selbst in Flammen – im Zentrum des Landes, auf dem Wenzelsplatz in Prag.

Sah er keinen Ausweg? Was bewog ihn genau zu dieser Tat? Seine beiden jüngeren Geschwister haben sich diese Fragen oft gestellt. In dem 2012 veröffentlichten Dokumentarfilm „Jan Zajíc – pochodeń č. 2“ („Jan Zajíc – die Fackel Nr. 2“) versuchen sie Antworten zu finden. „Nach Palachs Tod – abgesehen von Protesten im Ausland – ist bei uns nichts weiter passiert. Die Leute fielen wieder in die alte Lethargie zurück“, sagt sein Bruder Jaroslav.

Seine Schwester Marta glaubt, „dass Jan sich dachte, wenn so etwas wie der Selbstmord Palachs noch einmal passieren würde, dann wachen sie auf, dann wird sich eine Welle aufstauen.“ In seinem Abschiedsbrief hatte Palach angekündigt, dass „weitere Fackeln aufgehen“, wenn die Meinungsfreiheit weiterhin unterdrückt werde. Doch obwohl die Zensur bestehen blieb, ahmte niemand die Tat des Wirtschaftsstudenten aus Mělník nach. Deswegen musste er es machen, war Zajíc überzeugt. Die Selbstverbrennung Palachs durfte nicht umsonst gewesen sein.

Zajíc selbst hoffte, so schreibt er im Abschiedsbrief an seine Eltern und Geschwister, „ich werde das Leben mit meiner Tat besser machen. (…) Akzeptiert niemals Ungerechtigkeit, in welcher Form auch immer.“

In seinem Heimatort Vítkov in der Nähe von Šumperk war sein Vorhaben nach der Rückkehr aus Prag ein offenes Geheimnis. Mitschülern gegenüber hatte er davon erzählt. „Und auch seine Lehrer wussten von diesem Plan“, sagt der Historiker Petr Blažek, der für die Prager Karls-Universität ein Internetprojekt über Jan Palach und weitere „lebendige Fackeln“ betreut. „Ich hatte später das Gefühl, dass alle im Ort geahnt haben, dass so etwas passieren wird. Doch niemand hat etwas unternommen oder ihn daran gehindert“, meint Zajíc’ Schwester Marta mit trauriger Stimme. Sie erhebt indirekt Vorwürfe – auch heute noch, 45 Jahre nach dem Tod ihres Bruders.

Wann genau Jan Zajíc den Entschluss fasste, in Prag die „zweite Fackel“ zu entzünden, bleibt ungewiss. Doch als es soweit war, überließ er nichts dem Zufall. „Ursprünglich wollte er sich am 1. März verbrennen. Schließlich hat er sich jedoch für das symbolträchtige Datum entschieden“, sagt Blažek. Am Morgen des 25. Februar nahm er den ersten Zug nach Prag. Drei seiner Mitschüler reisten mit ihm. Doch weder sie noch die Polizisten, die von seinem Plan erfahren hatten, konnten Zajíc daran hindern, dass er sich am frühen Nachmittag in einer Passage am Wenzelsplatz mit Benzin übergoss und sich selbst anzündete.

„Doch auf dem Weg ins Freie kam Zajíc zu Fall. Er war auf der Stelle tot. Niemand hat seine Tat gesehen“, berichtet Blažek. Sein Vorhaben, wie Palach in der Öffentlichkeit zu verbrennen und damit die tschechoslowakische Gesellschaft wachzurütteln, missglückte. Die Polizisten, die später an den Tatort kamen, fanden in der Jackentasche des Jugendlichen zahlreiche Dokumente, darunter eine Liste, auf denen erfundene Namen weiterer „Fackeln“ standen. In der „Erklärung an die Bürger der Tschechoslowakischen Republik“, die er ebenfalls bei sich getragen hatte, schrieb Zajíc, er habe die Tat nicht begangen, „damit ich berühmt werde oder weil ich verrückt bin. Ich habe mich dazu entschlossen, damit ihr euch zusammenschließt und nicht von Diktatoren unterdrücken lasst. Ihr solltet bedenken: Wenn jemandem das Wasser bis zum Hals steht, ist es doch schon egal, wie viel.“

Büßen für den Bruder
Sein Wunsch, in Prag beerdigt zu werden – „damit so viele Leute wie möglich kommen“ – blieb unerfüllt. Doch auch in der mährischen Provinz hatte sich der Feuertod des 18-jährigen Berufsschülers herumgesprochen. Mehr als 8.000 Menschen sollen an der Beisetzung in Zajíc’ Geburtsort Vítkov teilgenommen haben. „Selbst Leute aus Prag waren angereist“, erinnert sich Marta Janasová, die in der Zeit der sogenannten Normalisierung für die Tat ihres Bruders büßen musste. Ein Studienplatz blieb ihr ebenso verwehrt wie ihrem zweiten Bruder Jaroslav. Ihr Vater wurde aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen, ihre Mutter verlor ihre Arbeit als Lehrerin.

Haben die Geschwister den Selbstmord ihres älteren Bruders jemals verurteilt? „Wir haben seine Tat niemals gutgeheißen“, sagt Jaroslav. Und Marta? „Verurteilt habe ich es nie, was er getan hat. Ich habe in dieser Zeit doch genauso gefühlt. Aber den Mut, so etwas wie er zu tun, hätte ich nie aufbringen können.“

FESTIVAL MENE TEKEL

„Studenten gegen das totalitäre Regime“ lautet das Motto des internationalen Festivals „Mene Tekel“. Zwischen 24. Februar und 2. März finden in Prag mehrere Konferenzen, Konzerte, Ausstellungen und Theatervorführungen statt. In der Galerie des Karolinum (Ovocný trh 3, Prag 1) wird eine von Schülern aus Šumperk erstellte Ausstellung über Jan Zajíc zu sehen sein.

Weiterführende Informationen unter www.menetekel.cz

SELBSTVERBRENNUNG ALS PROTEST

Die Selbstverbrennung als Ausdruck des politischen Protests geht auf Thích Quang Duc zurück. Der vietnamesische Mönch zündete sich am 11. Juni 1963 selbst an, um gegen die Diskriminierung der buddhistischen Bevölkerungsmehrheit in Südvietnam zu protestieren. Die intensive Berichterstattung über Ducs Flammentod und die weltweite Aufmerksamkeit sorgten dafür, dass sich die Praxis etablieren konnte. Ein vom US-amerikanischen Fotografen Malcolm W. Browne aufgenommenes Bild der Selbstverbrennung wurde zum Pressefoto des Jahres 1963 gewählt. Nach Ducs Tod kam es schon bald zu weiteren Selbstverbrennungen in Vietnam und den USA.

In den Staaten des Warschauer Paktes hatte sich am 8. September 1968 zunächst der polnische Beamte Ryszard Siwiec angezündet, der gegen die Okkupation der Tschechoslowakei im August 1968 protestierte. Größere Aufmerksamkeit – auch im Ausland – erlangte die Selbstverbrennung von Jan Palach am 16. Januar 1969 in Prag. Seinem Beispiel folgten unter anderem Jan Zajíc und Evžen Plocek in der ČSSR, der erst 16-jährige Sándor Bauer aus Ungarn oder Ilja Rips aus der Lettischen SSR.

Ein bekannter Fall in der DDR war der des evangelischen Pfarrers Oskar Brüsewitz, der sich im August 1976 aus Protest gegen die Unterdrückung der Christen und die Kollaboration der Kirchenleitung mit dem Staat anzündete. Zuvor hatte Brüsewitz vor der Michaeliskirche in Zeitz zwei Plakate auf das Dach seines Autos gestellt. An das Regime richtete er die Worte: „Die Kirche in der DDR klagt den Kommunismus an! Wegen Unterdrückung in Schulen an Kindern und Jugendlichen.“

Die meisten politisch motivierten Feuertode finden seit vielen Jahren in Tibet statt. Aus Protest gegen die chinesische Politik und die Unterdrückung Tibets kam es dort seit April 1998 zu mehr als 150 Selbstverbrennungen. Eine Welle sozialer Unruhen löste der junge Tunesier Mohamed Bouazizi aus, der sich in Sidi Bouzid in Brand setzte. Diese führte schließlich zum Sturz des autokratisch regierenden Präsidenten Zine el-Abidine Ben Ali. Im Zuge des darauffolgenden Arabischen Frühlings in mehreren Ländern kam es zu zahlreichen Nachahmungstaten.   (PZ)

Weiterführende Informationen unter www.janpalach.eu/de