Drei Fragen, drei Perspektiven, eine Wahl
Ein Fotograf, ein Wahlforscher und ein Moderator erzählen, wie sie die Parlamentswahl 2013 erlebt haben
31. 10. 2013 - Interview: Martin Nejezchleba
Milan Jaroš verfolgt das politische Geschehen durch den Sucher seiner Kamera. Er ist Fotograf der Zeitschrift „Respekt”. Mit einer seiner Fotoreportagen gewann er in diesem Jahr in der entsprechenden Kategorie den ersten Platz des Wettbewerbs „Czech Press Photo 2013“. Auch bei diesem Wahlkampf war er den Politikern auf den Fersen.
Was hat Sie an diesen Wahlen überrascht?
Jaroš: Der Glaube an die Heilsbringer und die Naivität der Wähler neuer Parteien gegenüber hat meine Erwartungen übertroffen – vor allem nach der Erfahrung mit der Partei „Öffentliche Angelegenheiten“. Das war die gleiche populistische Rhetorik. Auf der einen Seite haben wir nun die xenophobe Bewegung Úsvit, die ihren Erfolg aus den selben Gefühlen schöpft und die die Menschen in Nordböhmen zu rassistischen Demonstrationen bewegt. Auf der anderen Seite einen völlig unberechenbaren Milliardär, der in der U-Bahn Berliner verteilt.
Haben Sie im Laufe des Wahlkampfes etwas erlebt, das Ihrer Meinung nach die Stimmung in der tschechischen Gesellschaft widerspiegelt?
Jaroš: Bei diesen Wahlen habe ich mich fotografisch auf die Kampagne von Babiš konzentriert. Er hat neben Würstchen, Berlinern, Eis und Brot auch verschiedene Rezepte verteilt, die die tschechische Gesellschaft verbessern sollen. Wenn ihn dabei Leute gefragt haben, was er mit dem Zustand der Politik im Lande machen möchte, antwortete Babiš meist völlig unverständlich. Zum Beispiel hat er gerne die Geschichte erzählt, wie Vertreter einer internationalen Fastfoodkette auf ihn zugekommen sind und denen er nun Rindfleisch verkaufen wird. Daraufhin stellte Babiš immer die Frage, ob denn jemand mit einem ähnlichen Angebot auch auf die tschechischen Politiker zukommen würde. Die Leute waren begeistert.
Mit Blick auf das Ergebnis: Welche Bedeutung hatten diese Parlamentswahlen für Sie?
Jaroš: Sie bringen eine traurige Bestätigung: Der wirkliche Herrscher über die tschechische Politikszene ist der Lügner und Demagoge Miloš Zeman. Der hat zuerst eine Regierung ernannt, die sich aus seinen Anhängern zusammensetzt. Und nun gelingt es ihm, die ČSSD zu spalten und so die politsche Landkarte Tschechiens neu zu formen. Zur gleichen Zeit sind die traditionellen bürgerlichen Parteien paralysiert und bringen keine Persönlichkeit hervor, die Zeman die Stirn bieten könnte.
Lukáš Linek macht aus Wahlen Wissenschaft. Er ist Wahl- und Parteienforscher am Soziologischen Institut der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik. So analysierte er zum Beispiel nach der politischen Wende 20 Jahre lang das Verhalten der Wahlberechtigten oder deren Motivation, überhaupt wählen zu gehen.
Was hat Sie an diesen Wahlen überrascht?
Linek: Der deutliche Erfolg von ANO und Tomio Okamuras Úsvit. Beide Parteien haben zusammengenommen mehr als ein Viertel der Stimmen bekommen. Das bedeutet, dass jeder vierte Wähler die klassische Politik mit normal funktionierenden Parteien ablehnt. Sie sind bereit, für Briefkasten-Parteien zu stimmen, die nur den Absichten des Parteiführers dienen. Das ist ein deutliches Zeichen der Unzufriedenheit mit der politischen Elite. Dafür spricht auch die niedrige Wahlbeteiligung. Das Ergebnis entspricht etwa dem, was die Umfragen vorausgesagt haben. Dass die ČSSD nur zwei Prozentpunkte vor ANO landete, überrascht aber schon.
Haben Sie im Laufe des Wahlkampfes etwas erlebt, das Ihrer Meinung nach die Stimmung in der tschechischen Gesellschaft widerspiegelt?
Linek: Ich bin Prager und verbringe den Großteil meiner Zeit in Prag. Wenn ich raus fahre, dann meist an die selben Orte, auf die Datsche oder zu Freunden. Die Stimmung abseits der Hauptstadt bekommt man nur am Rande mit. Bewegt hat mich deshalb ein Telefonat mit meiner Mutter, die gerade aus einer kleinen Stadt in Mähren zurückkehrte. Sie meinte: Babiš und Okamura machen wirklich das Rennen. Fast alle dort wollen die beiden wählen. Da wurde mir klar, dass ich in einer großen Blase lebe.
Mit Blick auf das Ergebnis: Welche Bedeutung hatten diese Parlamentswahlen für Sie?
Linek: Ich habe diese Wahlen für wahnsinnig wichtig erachtet: normale Wahlen in einem demokratischen Staat. Ich glaube nicht daran, dass die Regierung, die daraus hervorgeht, eine dramatische inhaltliche Veränderung der bisherigen Politik bringt. Mich freut, dass es der Grünen-Partei gelungen ist, die Drei-Prozent-Hürde zu nehmen. Mit der staatlichen finanziellen Unterstützung, die daraus folgt, können sie systematisch an ihrer Organisation und am Programm arbeiten und sich auf die nächsten Wahlen vorbereiten. Die Grünen sind die einzige Partei, von der ich sinnvolle paradigmatische Veränderungen in der Politik erwarte.
Tschechiens Spitzenpolitikern heizt Václav Moravec regelmäßig ein. Er moderiert die einflussreichste politische Diskussionssendung des Landes „Otázky Václava Moravce“ jeden Sonntag im Tschechischen Fernsehen. Moravec hat den Ruf eines unerbittlichen Interviewers, der auch die größten Politprofis aufs Glatteis führt. Den Wahlkampf begleitete er mit einer Unzahl von Diskussionssendungen. Höhepunkt war die sogenannte Superdebatte: Am Abend vor den Neuwahlen sahen sich dort neun Spitzenkandidaten mit den Fragen von Moravec konfrontiert.
Was hat Sie an diesen Wahlen überrascht?
Moravec: Das mag jetzt vielleicht absurd klingen, aber am meisten haben mich die Reaktionen nach den eigentlichen Wahlen überrascht. Die Ergebnisse an sich waren keine große Überraschung für mich. Sie haben die Trends und Ergebnisse der soziologischen Studien bestätigt, die das Tschechische Fernsehen bei der Agentur TNS AISA in Auftrag gegeben hatte und die wir jeden Sonntag während der sechs Wochen vor der Wahl in meiner Sendung präsentiert haben. Überraschend ist für mich die Krise der Sozialdemokraten nach dem totalen Wahldebakel der Partei von Präsident Miloš Zeman, also der SPOZ. Das habe ich wirklich nicht erwartet.
Haben Sie im Laufe des Wahlkampfes etwas erlebt, das Ihrer Meinung nach die Stimmung in der tschechischen Gesellschaft widerspiegelt?
Moravec: Die gesellschaftliche Stimmung zeigt sich ohne Zweifel darin, dass es sich bei der letzten Fernsehdebatte, die das Tschechische Fernsehen vor den Wahlen gesendet hat, nicht um das Duell zweier Kandidaten um das Amt des Regierungschefs gehandelt hat. In Tschechien kommt es gerade zum Zerfall der traditionellen politischen Parteien. Das Parteiensystem, wie wir es kennen, erodiert. Der Trend der Fragmentierung zeigt sich auch schon seit einiger Zeit in den Reaktionen der Fernsehzuschauer. Die diesjährigen Wahlen haben das nur bestätigt.
Mit Blick auf das Ergebnis: Welche Bedeutung hatten diese Parlamentswahlen für Sie?
Moravec: Das Wahlergebnis hat mich darin bestätigt, dass es gut ist, in die sonntägliche Sendung „Otázky Václava Moravce“ (zu Deutsch etwa: Die Fragen des Václav Moravec; Anm. d. Red.) immer mehr Menschen einzuladen, die außerhalb der Politik stehen. Die Erosion des Parteiensystems lässt sich nicht aufhalten.
„Wie 1938“
„Unterdurchschnittlich regiert“