Ein Akt der Humanität
Ehrenamtliche Helfer unterstützen am Prager Hauptbahnhof Flüchtlinge, die nach Deutschland wollen. Ihr Einsatz verlangt Geduld, Nerven und viel Einfühlungsvermögen
16. 9. 2015 - Text: Stefan WelzelText und Foto: Stefan Welzel
Elena hält das Blatt mit der Aufschrift „Charity“ in die Höhe. Frisch bläst der Wind über den Bahnsteig. Ein Regionalzug aus dem nordböhmischen Turnov fährt ein. Pavel, Jan, Andrew und Elena brauchen nicht lange, um den zu finden, auf den sie seit einigen Stunden warten. Der Zugbegleiter der Tschechischen Bahn zeigt auf einen jungen Mann in Trainingshose und Plastiksandalen, der am ganzen Körper zitternd und mit müdem Blick aus dem Waggon steigt. Mit seiner rechten Hand hält er zwei große weiße Plastiksäcke fest, mit der linken tastet er nach seinen Zigaretten.
Muhammad Yoser Khatab hat Damaskus vor fünf Monaten verlassen. Nachdem die syrische Armee von Baschar al-Assad sein Zuhause in Schutt und Asche gelegt hatte, sah der 21-Jährige mit dem langen blonden Bart und den hellblauen Augen nur noch eine Möglichkeit, sich vor den Häschern des Diktators oder denen der Terrormiliz Islamischer Staat zu schützen: die Flucht aus seiner Heimatstadt. Eltern und Geschwister ließ er zurück, um sein Glück in Europa zu suchen. Nach rund acht Wochen kam er in Tschechien an. Hier wurde er drei Monate in einem Auffanglager eingesperrt. Er habe keine Möglichkeit gehabt, mit seiner Familie zu kommunizieren, wird er Jan gegenüber später erzählen, und nicht gewusst, ob er in Europa bleiben darf oder nicht.
Es sind solche Schicksale, die Anežka Polášková zum Handeln bewogen. Die 32-jährige Sachbearbeiterin ist seit einem Jahr Mitglied der Sozialdemokratischen Partei, die mit Bohuslav Sobotka den Premierminister stellt. Dieser weigert sich gemeinsam mit seinen Amtskollegen in Ungarn, Polen und der Slowakei hartnäckig, verbindliche Quoten für die Verteilung der Flüchtlinge innerhalb der EU zu akzeptieren. „Die Politik hierzulande hilft nicht. Deswegen habe ich mich dazu entschlossen, über Facebook eine Initiative zu starten“, erklärt Polašková. Über „Chci pomoci uprchlíkům“ („Ich möchte Flüchtlingen helfen“) engagieren sich inzwischen Dutzende freiwillige Helfer.
„Hast du keine Arbeit?“
Dazu gehören politische Aktivisten der Grünen und der Sozialdemokraten, Vertreter des autonomen Kulturzentrums „Klinika“ oder Bürger, die mit ihrer Regierung und der skeptischen Haltung vieler Tschechen gegenüber Migranten nicht einverstanden sind. Seit der vergangenen Woche organisieren sie den Hilfsdienst am Hauptbahnhof. In vier Schichten suchen jeweils vier Helfer das Gelände nach Flüchtlingen ab. In der Hand halten sie stets den Zettel mit der Aufschrift „Charity“ sowie der arabischen Übersetzung.
Der 35-jährige Pavel Grošpic ist Rechtsanwalt und schämt sich für den Umgang seines Landes mit den Flüchtlingen. „Die Geschichte hat immer wieder gezeigt, dass Menschen von der Solidarität anderer abhängig sind. Auch die Tschechen sind einst in Massen aus ihrem Land geflüchtet. Nun wäre es logisch, dass auch wir helfen.“ Pavel steht pünktlich zu Schichtbeginn, dreieinhalb Stunden vor Muhammads Ankunft, vor den Anzeigentafeln. Kurz danach stoßen der 27-jährige IT-Spezialist und Sozialdemokrat Jan Pech, der amerikanische Austauschstudent Andrew Hawking und die finnische Friseurin Elena Kosonen (32) dazu. Sie alle wollen helfen, und zwar aus einem einfachen „humanitären, empathischen Antrieb heraus“, wie es der 28-jährige Andrew beschreibt.
Die Lagebesprechung wird kurz unterbrochen, als ein Passant Pavel anspricht. „Hast du nichts Besseres zu tun als diesen Leuten zu helfen? Hast du keine Arbeit?“, faucht der etwa 50-Jährige in seine Richtung. Pavel muss lachen, der Rechtsanwalt ist zur Zeit tatsächlich arbeitslos – aber ganz freiwillig. Seinen Job als Berater bei einer staatlichen Behörde hat er gekündigt, nun bleibt mehr Zeit für die Doktorarbeit und ehrenamtliches Engagement. „Solche Reaktionen sagen viel über die Mentalität der Tschechen aus. Man hält sich lieber raus, kehrt den Problemen den Rücken“, meint Pavel. „Natürlich können wir nicht endlos viele Migranten aufnehmen. Aber einige Tausend Schutzbedürftige liegen absolut im Bereich des Machbaren.“ Zur Welle der Sympathie, die den Flüchtlingen in Deutschland entgegengebracht wird, hält er jedoch kritisch Abstand. „Das kommt mir auch etwas sonderbar vor. Dass die Leute applaudieren, halte ich für unpassend. Auf Europa wartet eine riesige Aufgabe, man muss diese Menschen integrieren. Ich frage mich, wie die Stimmung in Deutschland und ganz Europa sein wird, wenn die ersten Alltagsprobleme auftauchen“, so der Jurist.
Wie im Gefängnis
Doch zunächst geht es darum, anzupacken. Jan hat von einem Kollegen erfahren, dass im Regionalzug aus Turnov ein junger Mann aus Damaskus sitzt, der Verpflegung, Beratung und vor allem viel Zuspruch braucht. Es dauert aber noch eine Weile, bis er eintrifft. Die Helfer machen ihre Rundgänge in Zweier-Teams.
Kurz vor 13 Uhr hält der Intercity aus Budapest. Im Zug sind keine Flüchtlinge auszumachen. Die Migranten, die aus der ungarischen Hauptstadt aufbrechen, nehmen lieber den Weg über Österreich nach Deutschland. Längst hat sich herumgesprochen, dass ihnen die Menschen in der Slowakei oder Tschechien ähnlich misstrauisch begegnen wie in Ungarn. In den drei tschechischen Auffanglagern herrschten gefängnisartige Bedingungen, kritisierte Anfang August der Verband für Rechtsfragen der Immigration (Asociace pro právní otázky imigrace). Die Internierten könnten sich nicht frei bewegen, hohe Zäune verhinderten ihre Weiterreise. Muhammad wird später von miserablem Essen und respektlosem Verhalten der Sicherheitskräfte berichten.
Plötzlich taucht eine fünfköpfige Gruppe aus Syrien auf. Zwei Männer, zwei Mädchen und ein Teenager. Einer der beiden Erwachsenen spricht ein wenig Englisch. Der 41-jährige Yeman kommt aus Tartus, im Schlepptau befinden sich seine beiden Nichten, ein Neffe und ein Cousin. „Wo wollt ihr hin?“ fragt Pavel. „Holland“ lautet die Antwort, „wir haben Verwandte dort“. Sie sind gerade erst mit Schleppern über die Grenze gekommen und wollen nun mit der Bahn weiter. In den Händen halten sie die Fahrscheine nach Berlin. Weil sie nicht in einem tschechischen Lager waren, verfügen sie aber auch nicht über gültige Visa.
Erst zu Beginn der vergangenen Woche haben die Behörden hierzulande allen Syrern ein siebentägiges Visum ausgestellt, damit sie legal ausreisen können, sofern sie keinen Asylantrag in Tschechien stellen wollen. Gleichzeitig hätten sie aber auch Flüchtlinge aus anderen Ländern ohne Visum freigelassen, berichten Jan und Pavel. Was mit ihnen geschieht, wenn sie aufgegriffen werden, weiß niemand. Bisher verhält sich die Polizei zurückhaltend. Auch am Hauptbahnhof. Dennoch rät Pavel der Gruppe, auf dem Bahnsteig zu bleiben; dort seien Begegnungen mit Polizisten unwahrscheinlicher als in der großen Ankunftshalle. Andrew besorgt den Kindern belegte Brötchen und eine Cola. Man merkt Yeman seine Skepsis an. Zu viele zwielichtige Gestalten kreuzten in den 23 Tagen seit der Flucht aus Tartus seinen Weg. Bei der Frage, wo denn die Eltern der Kinder seien, wird sein Blick starr und die Stimme versagt. Er möchte nicht darüber sprechen.
Aus Erfahrung misstrauisch
Es vergehen lange 80 Minuten, bis endlich der Zug nach Berlin eintrifft. Elena und Andrew bleiben bei den Flüchtlingen. Pavel gibt ihnen seine Telefonnummer, um mit tschechischen oder deutschen Beamten zu sprechen, falls die Gruppe aufgegriffen wird. Die deutsche Polizei habe angefangen, die Züge zu kontrollieren und Flüchtlinge abzufangen, wissen die Helfer. Yeman und seine Schützlinge begreifen erst kurz vor der Abfahrt, dass die jungen Tschechen tatsächlich nur helfen wollten, ganz ohne Hintergedanken. Strahlend und winkend steigen sie in den ICE. „Thank you very much!“
„In den meisten Fällen, die wir bisher begleitet haben, handelte es sich um Migranten aus Syrien, Afghanistan und Afrika. Und fast alle wollten einfach nur auf dem schnellsten Weg nach Deutschland“, erklärt Pavel. Einige bleiben aber auch für eine Nacht, sofern sie über ein Visum verfügen. Dann werden sie von Aktivisten aufgenommen, können eine Dusche nehmen, etwas Warmes essen. Jan wird an diesem Abend den jungen Syrer beherbergen, der bald aus Turnov ankommt.
Auf die Frage, was er von seinem Parteikollegen und Premierminister hält, schüttelt der dunkelhaarige Mann mit dem sympathischen Lächeln den Kopf. „Seine Haltung kann ich überhaupt nicht verstehen. Es muss doch möglich sein, einige Tausend Flüchtlinge aufzunehmen. Auf das ganze Land verteilt stellt das für die einzelnen Kommunen doch überhaupt keine Belastung dar.“ Jan schlendert mit Elena ans Ende eines Bahnsteigs. Dort gönnen sie sich eine kurze Zigarettenpause. Den größten Teil der Zeit warten sie, marschieren mit den Schildern vor der Brust die Bahnsteige rauf und runter. In Prag ist kaum etwas von der europäischen Flüchtlingskrise zu spüren.
Unendlich dankbar
Umso unwirklicher erscheint dann um halb vier die Ankunft Muhammads. Auf einmal steht ein Mensch vor den Helfern, der all das verkörpert, was sie vorher nur aus den Medien kannten. Die Schrecken des Krieges, die Angst, die Verzweiflung und das Misstrauen stehen dem Mann aus Damaskus ins Gesicht geschrieben. Er ist zutiefst verängstigt. Jan kommuniziert über sein Handy mithilfe eines Arabisch-Dolmetschers mit Muhammad, der kein Wort Englisch spricht. Sie vereinbaren, dass er ihn für eine Nacht bei sich aufnimmt. Am nächsten Morgen wird Muhammad mit dem Bus nach Würzburg weiterreisen, wo ein Freund auf ihn wartet.
Am Abend beruhigt sich der 21-Jährige. Er merkt, dass bei Jan keine Gefahr droht. Er nimmt eine Dusche, erhält neue Schuhe, einen Rucksack und die Gewissheit, hier bei Menschen zu sein, die ihm Schutz bieten. Später erzählt Jan, wie Muhammad mehrfach seine Schulter küsste, seine Hand nahm und sich immer wieder bedankte. Am Morgen nach seiner Ankunft in Prag steht der Syrer früh auf und putzt die Wohnung. „Er wusste nicht mehr wohin mit seiner Dankbarkeit. Nach der Dusche war er so unglaublich glücklich.“
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