Ein Aufruf zu mehr Bescheidenheit

Tomáš Sedláček und David Orrell rechnen mit ökonomischen Grundsätzen unserer Zeit ab

5. 6. 2013 - Text: Christian Müller-BreitenkampText: Christian Müller-Breitenkamp; Foto: Hanser

 

Kaum ein Buch über Wirtschaft erregte in den letzten Jahren derartiges Aufsehen wie das Werk des Ökonomen Tomáš Sedláček „Die Ökonomie von Gut und Böse“. Es bescherte dem ehemaligen Berater Vacláv Havels und heutigen Chefvolkswirt der ČSOB-Bank zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Deutschen Wirtschaftsbuchpreis 2012. Außerdem belegte es Ende 2009 als erstes Beispiel nicht-fiktionaler Literatur überhaupt die Spitzenposition der tschechischen Jahresbestsellerliste.

Im März veröffentlichte Tomáš Sedláček gemeinsam mit dem kanadischen Mathematiker David Orrell ein neues Buch. In „Bescheidenheit – für eine neue Ökonomie“ treffen sich die beiden zum Gespräch mit dem tschechischen Journalisten Roman Chlupatý, der unter anderem für die Zeitschriften „Týden“ und „Lidové noviny“ schreibt.

Der Titel lässt vermuten, dass Sedláček und Orrell tatsächlich ein ökonomisches Idealmodell entwerfen, welches die Krise vielleicht verhindert hätte oder in der Lage ist, besser den Anforderungen der heutigen Weltwirtschaft gerecht zu werden. Genau dies tun die beiden allerdings nicht. Vielmehr gehen sie mit der heutigen Ökonomie und der unkritischen Zahlengläubigkeit einiger Wirtschaftswissenschaftler hart ins Gericht. Obwohl Orrell von einem mathematisch geprägten Standpunkt und Sedláček von einer theologisch-philosophischen Position ausgehend argumentieren, gelangen beide zu einem ähnlichen Schluss. In einer Welt, die mit fast religiöser Unterwürfigkeit an die Allmacht und Richtigkeit von Zahlen glaubt, rufen die Autoren zu etwas auf, was zwischen BIP und Stakeholder Value, Dividende und Derivaten keinen Platz mehr in der Wirtschaft zu haben scheint: Bescheidenheit. Außerdem verlangen sie eine sachlich fundierte Auseinandersetzung mit der Frage, ob die ökonomischen Modelle der heutigen Zeit adäquate Antworten auf aktuelle wirtschaftliche Probleme und Herausforderungen sein können.

Falsches Sicherheitsgefühl
David Orrell beschreibt, wie notwendig das Infragestellen bewährter ökonomischer Richtgrößen ist: „Ich kritisiere die mathematischen Modelle … dafür, dass sie den Ausbruch der Krise überhaupt erst ermöglicht haben. Sie haben ein falsches Sicherheitsgefühl geschaffen. So, als würde man einen Sicherheitsgurt anlegen, der gar nicht richtig verankert ist.“

Dieser Satz zeigt, wie elementar die Kritik der beiden Wissenschaftler ist und zeugt von ihrer Fähigkeit, komplexe Zusammenhänge anschaulich darzustellen. So verdeutlicht Sedláček die fatale Rolle von Wirtschaftsexperten und Ratingagenturen, die mit ihren Prognosen in unsicheren Zeiten vage Vorhersagen treffen, und damit für ein falsches Sicherheitsgefühl und mangelnde Vorsicht im Umgang mit der Krise sorgen. Zudem kritisiert er, dass ökonomische Modelle selbst auf mangelhaft belegten Grundannahmen basieren. Voraussagen, die die Ökonomie über bestimmte Szenarien treffen kann, stünden daher auf einem wackligen Fundament. Als Beispiel führt Sedláček das Postulat der menschlichen Freiheit an. Was in vielen ökonomischen Lehrbüchern als Grundannahme vorausgesetzt wird, bedürfe tausender Seiten philosophischer Abhandlungen und könne niemals einfach angenommen werden. Der Mensch – da sind sich Orrell und Sedláček einig – ist kein rein rationales Wesen, er kann nicht nur nach wirtschaftlichen Maßgaben entscheiden und verfügt auch sonst nicht über die unterstellten Fähigkeiten wirtschaftswissenschaftlicher Modelle wie zum Beispiel denen des Homo oeconomicus.

Das Buch macht nachdenklich, denn es erläutert, dass ökonomische Modelle die Komplexität der Realität nie werden ausdrücken können. Und es zeigt, warum diejenigen, die für die politischen und wirtschaftlichen Machtstrukturen verantwortlich sind, trotz Krise kein Interesse daran haben, notwendige Korrekturen am bestehenden System vorzunehmen. Dennoch ist das Gespräch zwischen den beiden auch unterhaltsam, weswegen es nicht nur Wirtschaftsinteressierten zu empfehlen ist. Im Gegenteil: Dieses Büchlein wird vielleicht manche dazu bringen, sich nach der Lektüre eingehender mit ökonomischen Zusammenhängen zu beschäftigen.

David Orrell und Tomáš Sedláček: Bescheidenheit – Für eine neue Ökonomie. Hanser 2013, 120 Seiten, 12,90 Euro