Ein Einschnitt für Ost und West
Birgit Hofmann analysiert Deutschlands und Frankreichs Reaktionen auf den Prager Frühling und dessen Niederschlagung
17. 2. 2016 - Text: Friedrich GoedekingText: Friedrich Goedeking; Fotos: APZ, Alexander Hauk
In der Nacht zum 21. August 1968 überschritten mehrere hunderttausend Soldaten aus den Staaten des Warschauer Paktes die Grenzen der Tschechoslowakei. An der Invasion beteiligten sich Truppen aus der Sowjetunion, Bulgarien, Polen und Ungarn. Die Einheiten der DDR rückten nur bis zur Grenze vor. Mit der Besetzung der ČSSR sollte der Prager Frühling und der Versuch, einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ zu schaffen, rückgängig gemacht werden.
Birgit Hofmann hat in ihrer Dissertation „Der Prager Frühling und der Westen“ vor allem die Rolle der Bundesrepublik und Frankreichs untersucht. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass die tschechoslowakische Reformpolitik und deren Niederschlagung einen Einschnitt sowohl für den Ostblock als auch für die deutsche und französische Ostpolitik bedeuteten. Die Abhängigkeit der östlichen Satellitenstaaten von Moskau wurde zementiert und bis 1989 festgeschrieben. Auf westlicher Seite führte die Invasion zur grundlegenden Veränderung der deutschen Ostpolitik, die schließlich darin mündete, dass die Regierung Willy Brandt die DDR und die Oder-Neiße-Linie anerkannte und Staatsverträge mit den einzelnen Staaten des Ostblocks schloss.
Bis 1968 hatte die Bundesrepublik die französische Ostpolitik mitgetragen. Diese war darauf gerichtet, Kontakte zu einzelnen Ostblockländern zu pflegen und gleichzeitig die Beziehungen zur Sowjetunion auszubauen, um so die Blockgrenzen aufzuweichen. Die Autorin beschreibt die Motive dieser Politik Charles de Gaulles. Dessen Ziel sei es gewesen, die Größe Frankreichs wiederherzustellen. Er habe die Vision eines Europas vom Atlantik bis zum Ural unter französischer Hegemonie verfolgt. Das Nationalgefühl der einzelnen Staaten bildete für ihn das Fundament.
Nur ein „Verkehrsunfall“
Hofmann analysiert, weshalb de Gaulle den Prager Frühling, dessen Reformprogramm darauf zielte, mehr Unabhängigkeit von der Sowjetunion zu erlangen, nicht als eine wichtige Etappe auf dem Weg seiner Politik der Blockdiffusion sah. Für ihn war die Tschechoslowakei kein Staat, sondern ein künstliches Gebilde. Den Parteivorsitzenden Alexander Dubček hielt er für einen kommunistischen Apparatschik. Den Prager Reformen misstraute er, weil sie von der Partei und nicht vom Volk selbst ausgegangen seien. Bei der Bevölkerung vermisste er den Nationalstolz, weil sie sich bei der Invasion nicht kampfbereit verhalten habe, wie die Deutschen in der DDR 1953 und die Ungarn 1956. Die französische Regierung beurteilte den Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts deshalb als einen „Verkehrsunfall“ und versicherte bereits am 24. August dem Kreml, an der Fortsetzung der Entspannungspolitik festhalten zu wollen. Die eigentliche Tragödie war für de Gaulle nicht die militärische Intervention, sondern die bereits 1944 zwischen den Großmächten erfolgte Aufteilung Europas in Blöcke, an der Frankreich nicht mitgewirkt hatte.
In der Bundesrepublik reagierte die Bevölkerung enthusiastisch auf den Prager Frühling. Im ersten Halbjahr 1968 besuchten 368.000 westdeutsche Touristen die ČSSR. Zwar versicherte die Bundesregierung unter Kanzler Kurt Georg Kiesinger immer wieder ihre Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten des Nachbarlandes, doch kam es inoffiziell zu vielen Kontakten zwischen westdeutschen Politikern und den Prager Reformern. Während bis 1968 die ČSSR in der westdeutschen Ostpolitik eher eine untergeordnete Rolle gespielt hatte, reisten nun Abgeordnete aller Parteien nach Prag. Unter anderem trafen sich die FDP-Politiker Walter Scheel und Hans-Dietrich Genscher im Juli 1968 im Hinterzimmer einer Prager Gaststätte mit dem tschechoslowakischen Außenminister Jiří Hájek. Egon Bahr gewann bei seinen Besuchen den Eindruck, dass die Prager Reformer vor allem an wirtschaftlichen Kontakten interessiert seien und dass auf politischer Ebene ein Vertrag möglich sei, der auch bisher strittige Fragen wie das Münchner Abkommen berücksichtige.
Ideen statt Divisionen
Birgit Hofmann schlussfolgert, dass die Invasion militärisch ein Erfolg war, sich politisch aber zu einem Desaster für den Osten entwickelt habe. Die Sowjetunion hatte den Einmarsch mit einem „Einladungsschreiben“ von tschoslowakischen Regierungsvertretern begründet, die um Hilfe gegen eine Konterrevolution gebeten hätten. Doch nach dem 21. August fanden sich keine Kollaborateure, mit denen sich eine Absetzung der Regierung Dubček hätte durchführen lassen. Vielmehr erklärten sowohl das Präsidium der Kommunistischen Partei als auch die Nationalversammlung die Invasion als eine Verletzung internationalen Rechts. Die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung verurteilte den Einmarsch als Okkupation und leistete passiven Widerstand. Die Sowjetunion reagierte darauf mit der Behauptung, dass die militärische Invasion nötig geworden sei, weil der Westen und insbesondere die Bundesrepublik versucht hätten, die Sicherheit der kommunistischen Länder zu gefährden, die ČSSR ideologisch zu unterwandern, um schließlich sie und auch die DDR in ihren Machtbereich zu integrieren.
Die Bundesregierung verwies auf ihre Politik der Nichteinmischung, musste dann aber erleben, dass de Gaulle sich die sowjetischen Anschuldigungen zum großen Teil zu eigen machte und bei einem Treffen mit Bundeskanzler Kiesinger Ende September 1968 erklärte, dass die Bundesrepublik für die Besetzung der ČSSR maßgeblich mitverantwortlich sei. Die Sowjetunion habe befürchten müssen, dass die ČSSR zumindest wirtschaftlich immer mehr von der Bundesrepublik abhängig werden könne. Der Konflikt mit Frankreich führte dazu, dass die Bundesregierung in der Ostpolitik nun eigene und neue Wege ging. „Wandel durch Annäherung“ lautete die Devise Für die Regierung Brandt-Scheel. Dazu gehörte es, den Status quo zu akzeptieren, um ihn durch bessere Beziehungen mit der Sowjetunion und den Ostblockstaaten zu überwinden. Außerdem war die neue Ostpolitik angesichts der brutalen Kriege, die Deutschland gegen die Länder geführt hatte, auf eine Versöhnung mit dem Osten ausgerichtet. Willy Brandt sah das bleibende Vermächtnis des Prager Frühlings in dessen Botschaft, dass Ideen oft mehr bewirken können als Divisionen.
Birgit Hofmann: Der Prager Frühling und der Westen. Frankreich und die Bundesrepublik in der internationalen Krise um die Tschechoslowakei 1968.Wallstein Verlag, Göttingen 2015, 480 Seiten, 39,90 Euro, ISBN 978-3-8353-1737-6
Auszeichnung für Birgit Hofmann
Die Autorin studierte Geschichte, Germanistik und Politikwissenschaft in Heidelberg und Freiburg und promovierte 2014 an der Universität Freiburg. Sie ist seit dem Wintersemester 2015/2016 Akademische Mitarbeiterin des Historischen Seminars der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg und koordiniert dort den Forschungsbereich „Minderheitengeschichte und Bürgerrechte in Europa“. Für ihre Dissertation wird sie in der kommenden Woche mit dem Hans-Rosenberg-Gedächtnispreis geehrt. Die von der Heinrich-August-und-Dörte-Winkler-Stiftung verliehene Auszeichnung wird der Historikerin am Mittwoch, 24. Februar in der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin überreicht. An der anschließenden Podiumsdiskussion zum Thema „Vom Nutzen und Nachteil der Realpolitik“ nehmen die Preisträgerin, der Stifter des Preises Heinrich August Winkler, der ehemalige außenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion Karsten D. Voigt und der SPD-Außenpolitiker Rolf Mützenich teil.
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