Ein Paradies auf Erden
Mit Werken wie „Der Nachsommer“ oder „Witiko“ gehört Adalbert Stifter zu den großen deutschen Dichtern des 19. Jahrhunderts. Seinem unglücklichen Leben setzte er vor 150 Jahren ein Ende
28. 1. 2018 - Text: Josef Füllenbach
Am 28. Januar 1868 starb Adalbert Stifter, einer der großen Dichter deutscher Sprache und böhmischer Herkunft, in Linz an der Donau. Er wurde am 23. Oktober 1805 in Horní Planá (Oberplan), einem Marktflecken im südlichen Böhmerwald, geboren. Als ältestes von fünf Geschwistern musste er mit zwölf Jahren schon früh Verantwortung übernehmen, nachdem sein Vater 1817 mit 36 Jahren durch einen Unfall ums Leben gekommen war. Dennoch hatte der junge Adalbert Glück: Seine vielseitige Begabung wurde rechtzeitig erkannt, und sein Großvater mütterlicherseits kümmerte sich darum, dass er in den Jahren von 1818 bis 1826 das Benediktinerstift in Kremsmünster besuchen konnte, das bekannt war für seinen liberalen Katholizismus, für seine Kunstsammlung und für die Möglichkeit, naturwissenschaftlichen Interessen nachzugehen. Diese Jahre im Stift, die den Heranwachsenden entscheidend prägten und wo er das Abitur mit Auszeichnung absolvierte, sollte er später als die glücklichsten seines Lebens bezeichnen.
Der hervorragende Abschluss seiner Schulzeit hätte eigentlich zu großen Hoffnungen für Stifters Zukunft berechtigt. Doch kam es zunächst ganz anders. Im Herbst 1826 übersiedelte er nach Wien und nahm dort das Studium der Rechte auf. Daneben ging er seinen Neigungen durch den Besuch von Vorlesungen über Astronomie, Physik und Geschichte nach. Einen akademischen Abschluss aber hat er nie erreicht. Im Rückblick scheint es, dass er die ersten 14 Jahre in Wien mehr oder weniger nutzlos vergeudet hat.
Welche Rolle dabei eine unglücklich verlaufene Jugendliebe zu Franziska (Fanny) Greipl in Frymburk (Friedberg), einem Nachbarflecken seines Geburtsorts, gespielt hat, ist im Nachhinein schwer zu entschlüsseln. Die Beziehung zerbrach endgültig 1835. Doch schon zwei Jahre später heiratete Stifter in Wien die Näherin Amalia Mohaupt, womit er sich zur Verwunderung seiner Freunde auf eine völlig ungleiche Verbindung einließ. Seine Selbstzeugnisse sind bis hin zu einer Schilderung seiner Kindheit, die er kurz vor seinem Tode zu Papier brachte, wenig erhellend, denn sie sind literarisch überhöht und dabei gekennzeichnet von variierenden Versuchen, die auch für ihn selbst schmerzhaften Brüche im Leben und sein vor dem Hintergrund bester Startbedingungen enttäuschendes Versagen zu rationalisieren.
Stifter schlägt sich in den Jahren bis 1840 vorwiegend als Hauslehrer der Söhne wohlhabender, auch adliger Familien durch. Seine Frau Amalia, die er als leichtes und leicht zugängliches Mädchen kennengelernt hatte, besserte die kargen Einkünfte durch ihre Näherei ein wenig auf; das frühere Zubrot durch die Liebe war ihr nunmehr als Ehefrau versagt. Materiell fehlte es in dem Haushalt, in dem auch noch die lungenkranke Schwester Amalias lebte, an allem; gelegentlich klopfte der Gerichtsvollzieher an die Tür. Stifters Biograph Wolfgang Matz schreibt: „Eine realistische Beschreibung der materiellen, vor allem aber moralischen Verelendung, in der sich Stifter am Ende der dreißiger Jahre befand, ist keine müßige Skandalisierung eines Schriftstellerlebens; sie ist gerade deshalb notwendig, weil sich nur auf diesem Hintergrund die Figur von Stifters frühem Schreiben abzeichnet: die Figur der Literatur als Wunscherfüllung.“
Manche von den Erzählungen, die er ab 1840 nach und nach veröffentlichte, mögen als bruchstückhafte Entwürfe schon in den Jahren davor entstanden sein. Einige wenige Gedichte publizierte er unter dem Pseudonym „Ostade“. Nach eigenen Angaben hat er auch an einem Roman und an einem Trauerspiel gearbeitet, von dem sich freilich nichts erhalten hat. Stifter muss in jenen Jahren in höchstem Maße frustriert gewesen sein: gefangen in deprimierenden häuslichen Verhältnissen, ohne Studienabschluss und entsprechenden Beruf, jedenfalls weit unter seinen Möglichkeiten, als Hauslehrer auf eine nach eigenem Zeugnis erniedrigende Weise sein Brot verdienend, das im Übrigen kaum reichte, satt zu werden – und dies alles begleitet von den Träumereien, ein großer Schriftsteller und Künstler zu werden.
Die Anerkennung als Schriftsteller kam 1840 mit der Erzählung Der Condor eher durch einen Zufall, wenn man der von seinem Freund Johannes Aprent tradierten Begebenheit Glauben schenken will: Als er bei der Baronin Mink zu Besuch war, habe ihm deren Tochter Ida eine Rolle von Papieren aus der Rocktasche gezogen und die Blätter, nachdem sie darin gelesen hatte, der Mutter mit den Worten hingehalten, „Mama, der Stifter ist ein heimlicher Dichter; hier fliegt ein Mädchen in die Luft!“. Als Stifter auf Bitte der Baronin die Erzählung vorgelesen hatte, habe diese für die Veröffentlichung in der Wiener Zeitschrift für Kunst, Literatur, Theater und Mode gesorgt. Tatsächlich erschien sie dort Anfang April 1840 in fünf Folgen. Der Condor stieß bei der Leserschaft auf Wohlgefallen, so dass die Redaktion nach mehr verlangte. Stifter stellte nach und nach weitere Stücke fertig, die überwiegend ebenfalls ein positives Echo fanden und seinen Ruf als brillanter Erzähler begründeten.
Bis zu den Revolutionswirren von 1848 erlebte Stifter nun seine fruchtbarste Schaffensperiode. Seine ersten Erzählungen litten freilich noch darunter, dass ihm lebendige Figuren mit nachvollziehbaren Motiven ihrer Handlungen nicht gelingen wollten. Zu sehr war er noch damit beschäftigt, mit seinem Schreiben eine Art Therapie des Scheiterns der eigenen Existenz zu versuchen. Er schuf seine Figuren, „um mit ihnen seine Handlungsweise, die ihm gut bekannt war, zu rechtfertigen“ (Matz). Damit – und das wusste er nur zu gut – floh er vor der Wirklichkeit. Stifter versuchte, sich als junger Dichter zu stilisieren, der um der Kunst willen seiner Liebe und einer bürgerlichen Existenz entsagt. Gleichwohl finden sich in den frühen Stücken schon grandiose Passagen, die sein wahres Können ahnen lassen und auf die späteren Naturschilderungen verweisen, die zu seinem Markenzeichen werden sollten.
Mit der Erzählung Der Hochwald gelang ihm 1841 endlich auch künstlerisch der Durchbruch. Stifter schildert das tragische Schicksal der beiden Schwestern Clarissa und Johanna während des Dreißigjährigen Krieges in der waldigen Gegend zwischen Böhmen und Österreich. Nachdem der Vater, der Bruder und Clarissas Geliebter Ronald den Tod fanden – denn auch bis in diese Abgeschiedenheit dringt das Kriegsgeschehen – leben die beiden Schwestern in einer Burgruine. Doch nicht der „Plot“ ist es, der den Hochwald berühmt gemacht hat, sondern die eindringlichen Schilderungen einer Landschaft, die Stifter seit seiner Kindheit und Jugend vertraut war und die er liebte: die Wälder, Berge und Seen des südlichen Böhmerwalds um den Plöckensteinsee (Plešné jezero) in der Nähe des heutigen Dreiländerecks Deutschland-Tschechien-Österreich.
Der Dichter hatte seine ureigene Sprache gefunden, die er fortan pflegt und in seinen großen Romanen des Spätwerks zur Vollendung bringt. Er selbst war sich dessen durchaus bewusst; mit Bezug auf den Hochwald schrieb er seinem Verleger, „denn das weiß ich mit Gewissheit, dass diese Dichtung innig und warm ist, und warme Herzen ergreifen muss, und das weiß ich auch, dass sie, außer Tieck, keiner schreiben kann.“ Zudem hat er den Hochwald später kaum noch verändert, wie er es mit den meisten anderen Erzählungen hielt, die er bei ihrer Übernahme in die Buchfassungen der Studien gegenüber der Erstveröffentlichung in Zeitungen und Zeitschriften einer teils sehr gründlichen Umarbeitung unterzog.
Als bekannter Autor besuchte Stifter in den 1840er Jahren die Wiener Salons, wo er ein gern gesehener Gast war, pflegte den Umgang mit hochadeligen Familien wie Schwarzenberg und Metternich, unterrichtete Metternichs Sohn in den Naturwissenschaften, hatte Kontakte mit den Dichterkollegen Grillparzer und Eichendorff, mit dem Ehepaar Schumann. Und von diesen „Ausflügen“ in die Welt der Aristokraten und Künstler kehrte er stets wieder zurück in die Erbärmlichkeit seines Daseins in fortgesetzter Not, Bedrückung und einer äußerst banalen Ehe, deren Kinderlosigkeit ihn zusätzlich schmerzte. Das Elend dieses Doppellebens suchte er zu kompensieren durch zunehmende Fresssucht, durch maßloses Trinken und Rauchen, doch dem Teufelskreis des Selbstbetrugs konnte er so nicht entkommen. Im Gegenteil, auch äußerlich bot er dank zunehmender Verfettung ein Bild des Jammers.
Die Märzrevolution von 1848 begrüßte Stifter zunächst begeistert, er zog sich jedoch schon bald zurück, enttäuscht von den gewalttätigen Auswüchsen und im Grunde ohne Verständnis für die sozialen und nationalen Fragen der Zeit, und übersiedelte mit seiner Frau nach Linz. Der Strom neuer Erzählungen hat in den Jahren um 1850 ebenso etwas nachgelassen wie das Interesse seiner Leser. Stattdessen setzt er die schon in Wien begonnenen Arbeiten an einer Gesamtausgabe seiner Erzählungen fort. Ein wegen der permanenten Umarbeitungen des früher Geschriebenen und wegen Stifters penibler Überwachung der Illustration der einzelnen Bände sehr mühseliges Unterfangen, wie der Korrespondenz mit seinem Verleger und Freund Heckenast in Budapest zu entnehmen ist. Das führte immer wieder zu Verzögerungen mit der Folge, dass die Honorare stockten und Geldnot auch in Linz ein ständiger Begleiter blieb. Immerhin gelang es ihm, 1850 zunächst provisorisch und dann 1853 auf Dauer als Schulrat in den Staatsdienst zu treten – seine erste reguläre Beschäftigung überhaupt! – und auf diese Weise eine gewisse, wenn auch nie ausreichende materielle Absicherung zu gewinnen.
Wir können heute froh sein, dass Stifter trotz dieser Belastungen und manch anderer Beschäftigungen (vor allem Malerei, Kakteenzucht) noch die Zeit erübrigen konnte, zwei große Romane abzuschließen: Der Nachsommer, Stifters berühmtester Roman, in drei Bänden im Jahre 1857 und Witiko, dessen ebenfalls drei Bände in den Jahren 1865 bis 1867 erschienen, die aber nur den ersten Teil eines ursprünglich als Romantrilogie beabsichtigten Werkes über das böhmische Adelsgeschlecht der Rosenberger bilden; die beiden weiteren Teile konnte Stifter nicht mehr ausführen.
Die Ereignis- und Handlungsarmut des Nachsommers waren häufig Zielscheibe des Spotts. Die Geschichte des 800-Seiten-Romans, die der Held Heinrich Drendorf im Rückblick erzählt, könne in wenigen Sätzen zusammengefasst werden: Heinrich trifft bei seinen Erkundungen auf ein auf seiner Frontseite ganz mit Rosen bewachsenes Landhaus, dessen Besitzer, den Freiherrn von Risach, er wegen eines drohenden Gewitters um Zuflucht bittet. Nach der freundlichen Aufnahme kehrt Heinrich jedes Jahr wieder dorthin zurück, beeindruckt von der peniblen Ordnung und in den Kreis der im „Rosenhaus“ sowie in der Nachbarschaft wohnenden Menschen hineinwachsend. Dort in der Nachbarschaft, lernt er Natalie kennen und lieben, deren Mutter Mathilde Risachs Jugendliebe ist. Die schließlich in die Heirat mündende Beziehung bringt auch die beiden Alten, von Risach und Mathilde, wieder einander näher. Und darüber hinaus: unendliche Landschaftsschilderungen, ausschweifende Beschreibungen von Kunstgegenständen und Gemälden, Hervorhebung auch der banalsten Abläufe und Verrichtungen, Betonung des Gleichmaßes und der Wiederkehr, leitmotivisch die alljährliche Rosenblüte, zu deren Feier Heinrich jedes Jahr wieder eintrifft und die so dem Roman das sinngebende Zeitmaß vorgibt.
Stifter breitet im Nachsommer eine Utopie vor dem Leser aus, eine Art Paradies auf Erden, das nur Bestand hat, weil es von der sonstigen Welt abgeschirmt ist. In vieler Hinsicht ist es ein Gegenentwurf zu seinem eigenen misslungenen Leben. Von der zeitgenössischen Kritik noch überwiegend gescholten, wird Der Nachsommer inzwischen zu den schönsten Romanen deutscher Sprache gezählt. Friedrich Hebbel begleitete noch fast jede Veröffentlichung Stifters mit scharfer Kritik und Häme. Berühmt ist sein Diktum zu den drei Bänden des Nachsommers, er glaube „nichts zu riskieren, wenn wir demjenigen, der es beweisen kann, dass er sie ausgelesen hat, ohne als Kunstrichter dazu verpflichtet zu sein, die Krone von Polen versprechen.“ Demgegenüber reihte schon Nietzsche den Roman in die wenigen Beispiele einer Prosa-Literatur ein, die – „wenn man von Goethes Schriften absieht“ – „es verdiente, wieder und wieder gelesen zu werden“. Und viele moderne Schriftsteller, besonders aus Österreich, sehen sich vor allem unter Bezug auf den Nachsommer bewusst in der Nachfolge Stifters.
Dessen letzter und noch umfangreicherer Roman Witiko greift weit in die mittelalterliche Vergangenheit zurück und spielt überwiegend in Stifters engerer Heimat, aber auch Prag und Nürnberg sind wichtige Orte der Handlung. Deren Rahmen bildet der Thronfolgestreit nach dem Tod des Přemyslidenherzogs Soběslav I. im Jahre 1140, den schließlich Vladislav II. für sich entscheiden konnte. Witiko, ein deutscher Ritter, schlägt sich auf die Seite Vladislavs, dem Kaiser Friedrich Barbarossa später als erstem böhmischen Herrscher die – allerdings noch nicht erbliche – Königswürde verleiht.
Die zu Stifters Zeiten aktuelle Bedeutung des Romans liegt in der Person des Helden Witiko, der beispielhaft das friedliche Zusammenleben und -wirken der deutschen und slawischen Böhmen vor Augen führt. Die Vertreter beider Seiten stehen sich gleichberechtigt gegenüber; Witiko begibt sich sogar in die Dienste des Herzogs Vladislav: Er gliedert sich ein in das sich entwickelnde böhmische Herrschaftsgefüge. Zum Positiven beeinflussen konnte Stifter das zunehmend angespannte Verhältnis der Deutschen und Tschechen in seiner Zeit jedoch nicht. Für den Witiko unternahm Stifter 1865 seine erste und einzige Reise nach Prag, um dort die Originalschauplätze bestimmter Passagen des Romans in Augenschein zu nehmen, vor allem die Prager Burg mit dem Veitsdom und den Vyšehrad: „Ich muss die Stadt und die Gegend sehen, dass ich alles genau bezeichnen und mit der Feder malen kann.“ Das fertige Buch widmete er „seinen Landsleuten, insbesondere der alten ehrwürdigen Stadt Prag“. Zu Stifters großen Enttäuschung stieß sein zweiter großer Roman auf noch weniger Interesse als Der Nachsommer. Eine erste Übersetzung ins Tschechische erfolgte erst 1926.
Als letztes Projekt vor seinem Tod griff Stifter Mitte 1867 eine seiner frühen Erzählungen wieder auf, die Mappe meines Urgroßvaters. Sie war 1841 erstmals erschienen, danach hatte er das Stück schon zweimal gründlich überarbeitet. Nun, nach Witiko, wollte er dieses stark autobiographisch geprägte Werk ausbauen und zu einem eigenständigen Roman formen. Dazu ist es jedoch nicht mehr gekommen, die vierte Fassung der Mappe blieb Fragment. Als Folge einer Lebensweise, die in den leiblichen Genüssen kein Maß kannte, verschlimmerte sich sein Zustand um die Jahreswende 1867/68. Es war nur noch eine Frage von Wochen, wann er seiner Leberzirrhose erliegen würde. Am 28. Januar 1868 verstarb er, nachdem sich der schon Todgeweihte zwei Tage vorher eine Schnittwunde am Hals beigebracht hatte, womit er seinem natürlichen Tod wohl nur wenige Tage zuvorkam.
„Markus von Liberec“
Geheimes oder Geheimnistuerei?