Ein Teil des europäischen Gedächtnisses

Ein Teil des europäischen Gedächtnisses

Bis 2018 sollen in einer zehnbändigen Werkausgabe alle Texte des Autors und Diplomaten Jiří Gruša
in deutscher und tschechischer Sprache erscheinen

21. 10. 2015 - Text: Sabina PoláčekText: Sabine Poláček; Foto: Gruša

 

Als Jiří Gruša am 28. Oktober 2011 – am tschechischen National­feiertag – starb, hatte er ein bewegtes Leben hinter sich. Der tschechische Schriftsteller und Übersetzer war Unterzeichner der Charta 77 und als Dissident inhaftiert, später emigrierte er, lebte und arbeitete in Deutschland und Österreich. Für sein Schaffen erhielt Gruša zahlreiche Auszeichnungen – dazu zählen der Internationale Brückepreis, die Goethe-Medaille, das Bundesverdienstkreuz sowie zuletzt posthum der Manès-Sperber-Preis.

Nach seinem Tod hinterließ der damals 73-Jährige ein umfangreiches literarisches Werk europäischen Formats, welches seit 2014 in einer Werkausgabe verlegt wird. Anfang Oktober stellten die Herausgeber aus Deutschland und Österreich an der Seite von Initiatorin und Ehefrau Sabine Gruša die neuesten Bände im Tschechischen Zentrum in München vor.

„Europäisch – oder jedenfalls mitteleuropäisch – kann man Gruša deshalb nennen, weil er zunächst in Böhmen lebte und nach seiner Ausbürgerung 1981 in Deutschland und dann als Botschafter und Direktor der Diplomatischen Akademie in Wien arbeitete“, sagt Hans Dieter Zimmermann, Herausgeber der deutschen Publikation, Literaturwissenschaftler und Gewinner des diesjährigen Kunstpreises zur deutsch-tschechischen Verständigung. Es seien jedoch auch Grušas Gedanken zu Europa, die ihn auszeichneten. „Seine Denkweise kommt in seinen Essays am besten zum Tragen“, so Sabine Gruša bei der Diskussionsrunde in München. „Die Vielfalt der Kulturen und gegenseitiger Respekt sowie die Frage, was uns alle verbindet – das ist es, was ihn angetrieben hat.“

Literarisches Gemeinschaftsprojekt
Grušas Werke gelten als Teil eines gesamteuropäischen Gedächtnisses der Epoche vor sowie auch unmittelbar nach der politischen Wende von 1989. „Um die Erinnerung an Jiří Gruša aufrechtzuerhalten“, so der Wunsch seiner Ehefrau, begannen im vergangenen Jahr der österreichische Wieser Verlag sowie das tschechische Haus Barrister & Principal mit einer zehnbändigen Werkausgabe, die 2018 abgeschlossen sein soll. Die 72-Jährige hat dieses Projekt zusammen mit einer Gruppe von Wissenschaftlern aus Tschechien, Österreich und Deutschland unter Leitung von Hans Dieter Zimmermann und Dalibor Dobiaš, Bohemist an der Prager Akademie der Wissenschaften, initiiert.

Laut Sabine Gruša war die Sichtung der zahlreichen Texte die schwerste Arbeit. „Mein Mann war ein wahrer Schachtel-­Fanatiker“, erinnert sie sich. Den literarischen Nachlass ließ sie nach Grušas Tod ins Archiv nach Brünn bringen. „Es hätte mir aber Kummer bereitet, wenn seine Werke dort dem Vergessen anheim gefallen wären. Umso glücklicher bin ich, in Österreich einen Verlag gefunden zu haben, der dieses Projekt nun finanziert.“

Die Werkausgabe startete 2014 mit „Der 16. Fragebogen“ und somit mit Grušas bekanntester literarischer Schrift. Wegen dieses 1978 im Samisdat erschienen Romans verbrachte der Autor zwei Monate in Untersuchungshaft, wurde verhört, ausgewiesen und 1981 kurzerhand ausgebürgert. Der nächste Band mit dem Essay „Beneš als Österreicher“, dem letzten Werk Grušas kurz vor dessen Tod, sorgte ebenfalls für kontroverse Diskussionen. Gruša machte dabei keinen Hehl daraus, dass er die Heldenverehrung und Begeisterung vieler Tschechen für Edvard Beneš nicht teilen konnte. Und auch der Roman „Mimner, oder, Das Tier der Trauer“, den Gruša 1969 in seiner Muttersprache und später auch auf Deutsch verfasst hatte, war für das tschecho­slowakische Regime ein rotes Tuch.

Darin erzählt der Autor von einem Reisenden in einem fremden Land, dessen Sprache er nicht versteht und in dessen System er unweigerlich hineingezogen wird. „Mimner“, der in diesem Jahr neben einer Essaysammlung Grušas erschienen ist, wird derzeit auf der Frankfurter Buchmesse vorgestellt. Im nächsten Jahr folgen im Rahmen der gesammelten Werke weitere Essays, Prosa und Dramen. 2017 erscheinen eine Gedichtsammlung und 2018 abschließend Interviews und Gespräche.

Mimner, oder, Das Tier der Trauer. Werkausgabe Band 3 – Prosa I, ca. 400 Seiten, Wieser Verlag GmbH, Klagenfurt 2015, ISBN 978-3-99029-165-8, 21 Euro

Zur Person
Jiří Gruša wurde 1938 im ostböhmischen Pardubice geboren. Er studierte an der Karls-Universität Prag Philosophie und Geschichte und arbeitete später als Redakteur und Herausgeber verschiedener Zeitschriften. Im Jahr 1970 erhielt er wegen seiner regimekritischen Haltung Publikationsverbot. Gruša beteiligte sich aktiv am „Prager Frühling“ und zählte zu den Unterzeichnern der Charta 77. 1978 wurde er inhaftiert, und nach seiner Emigration nach Deutschland gegen seinen Willen ausgebürgert. Im Exil arbeitete er weiterhin als Schriftsteller und übersetzte unter anderem auch Werke von Rilke ins Tschechische. In den neunziger Jahren fungierte er als tschechischer Botschafter in Bonn, 1997-1998 kehrte er als Minister für Bildungswesen, Jugend und Sport nach Prag zurück und repräsentierte Tschechien anschließend in Österreich. 2004 wurde Gruša zum Präsidenten des Internationalen P.E.N.-Clubs gewählt; zuletzt war er Direktor der Diplomatischen Akademie Wien. Der Schriftsteller, Übersetzer und Diplomat erhielt zahlreiche literarische Auszeichnungen. Seine im Exil entstandene Beziehung zur deutschen Sprache blieb eng: Grušas letztes Buch „Beneš als Österreicher“ wurde zunächst im Wieser Verlag veröffentlicht und erst später ins Tschechische übersetzt. Er starb 2011 in Bad Oeynhausen.