Ein Tor zur Welt
Das deutsche Theater in Prag galt für über ein Jahrhundert als wesentlicher Bestandteil der böhmischen Kulturszene
10. 10. 2013 - Text: Friedrich Goedeking, Titelbild: Staatsoper Prag © Národní divadlo
Die Theaterhistorikerin Jitka Ludvová hat sich über 30 Jahre mit dem deutschsprachigen Theater in Prag beschäftigt. Mit ihrer 800-seitigen Monographie „Bis zum bitteren Ende – Das Prager deutsche Theater 1845–1945“ erschien nun die umfassendste Darstellung zu dem Thema in tschechischer Sprache. Ein Abriss über die wechselvolle Geschichte des Prager deutschen Theaters.
Für Tschechen und Deutsche in den Böhmischen Ländern entwickelte sich ab der Mitte des 19. Jahrhunderts das Theater zur wichtigsten Kulturinstitution, die ihre nationale Eigenständigkeit unterstreichen sollte. Die erste Bühne, die nach nationaler Zugehörigkeit unterteilt wurde, war das Prager Ständetheater im Jahr 1862. Bis dahin hatte es keine eigenständige tschechische Bühne in Prag oder in den böhmischen Ländern gegeben. Offiziell in deutscher Hand, hatten sich bisher das tschechische und das deutsche Ensemble die Spielstätte geteilt. Tschechische Stücke wurden nur am Sonntagnachmittag aufgeführt, die Bühne gehörte also hauptsächlich deutschen Vorstellungen. Erst als 1883 das Nationaltheater eröffnet wurde, erhielten die Tschechen eine eigene Bühne.
Um ihre kulturelle Hegemonie fürchtend, appellierten die Prager Deutschen – wie zuvor die Tschechen auch – an den Ehrgeiz ihrer eigenen Volksgruppe und riefen zu einer Spendensammlung auf. So konnte schließlich das Neue deutsche Theater im Gebäude der heutigen Staatsoper seinen Betrieb aufnehmen, es bot 1.300 Sitz- und 500 Stehplätze. Als erster Theaterdirektor wurde Angelo Neumann engagiert. Zuvor Sänger an der Wiener Oper, war Neumann ein erfahrener Organisator, der es verstand, sein Ensemble mit viel Enthusiasmus für große Projekte zu gewinnen. Am 5. Januar 1888 eröffnete er das Neue deutsche Theater mit Richard Wagners „Die Meistersinger von Nürnberg“.
Wagner-Blüte in Prag
Als erfolgreicher Wagner-Interpret hatte sich Neumann bereits international einen Namen gemacht. Drei Jahre vor seinem Dienstantritt in Prag erwarb er 1882 die Aufführungsrechte für Wagner-Opern in gekürzter Fassung. Daraufhin gründete er die Reisegesellschaft „Richard-Wagner-Theater“. Neumann mietete einen Zug mit fünf Waggons für sein etwa 150 Personen umfassendes Ensemble und begann eine zehnmonatige Tournee mit dem „Ring der Nibelungen“ durch Deutschland, Holland, Belgien, Österreich-Ungarn und Italien. In Europa galt Neumann außerhalb von Bayreuth nun als die bedeutendste Autorität für die Inszenierung der Opern Wagners.
Doch die Unterhaltung zweier Theater gestaltete sich schwierig. Denn das tschechische Publikum blieb aus und die Zuschauer mussten sich allein aus den etwa 35.000 Prager Deutschen rekrutieren. Neumanns Versuche, das tschechische Publikum in das Theater zu locken, scheiterten. Wenig erfolgreich waren auch seine Bemühungen, Deutsche aus den Grenzgebieten für die Vorstellungen in Prag zu interessieren. Um die prekäre finanzielle Situation des Theaters zu verbessern, fuhr er schließlich mit seinem Prager Ensemble 1889 nach Petersburg, um dort vier Mal vor mehr als tausend Zuschauern den „Ring des Nibelungen“ aufzuführen. Mit einem Erlös von 100.000 deutschen Mark kehrte er nach Prag zurück.
Nachfolger von Neumann, der 1910 starb, wurde Heinrich Teweles, von 1899 bis 1910 Chefredakteur des „Prager Tagblatts“. Im Unterschied zu Neumann, der sich gleichermaßen der tschechischen und deutschen Volksgruppe verbunden fühlte, und der sich in seiner Arbeit an der europäischen Theaterwelt orientierte, konzentrierte er sich auf die Wahrung und Propagierung des deutschen Kulturerbes.
Unter Teweles erlebte das Theater eine Krise vor allem durch die starke Konkurrenz des Kinos. Die Versuchung war groß, das Publikum durch seichte Lustspiele in das Theater zu locken. Teweles setzte sich dennoch für das anspruchsvolle moderne Drama ein. Gegenüber dem expressionistischen Drama hatte er zwar zunächst Vorbehalte. Das änderte sich jedoch, als Hans Demetz 1916 sein Dramaturg wurde. Er gründete nach dem Berliner Vorbild von Max Reinhardt die Prager Kammerspiele, die zu einem Symbol für ein anspruchsvolles, modernes Theater wurden. Die Vorstellungen fanden im Ständetheater statt, da die Abonnenten des Neuen deutschen Theaters wenig Neigung zu experimentellen Stücke zeigten. Mit Walter Hasenclevers Drama „Der Sohn“ begann eine Reihe von Aufführungen moderner Stücke von Strindberg, Frank und Wedekind.
In den Kammerspielen verwirklichte sich die Intention von Teweles und Demetz, ein Theater zu schaffen, das sich nicht in erster Linie am finanziellen Gewinn ausrichtete, sondern an der Kunst.
Minderheit im neuen Staat
Die Begeisterung zu Beginn des Ersten Weltkrieges erfasste auch den Theaterbetrieb: In den Operetten trugen die Darsteller jetzt häufig Uniformen und die Texte wurden zusätzlich um patriotische Bekenntnisse erweitert. Eine Ballettvorstellung am 6. September 1914 wurde zu einer Manifestation für die Bereitschaft zum Krieg: Zu den Klängen des Radetzky- und des Prinz-Eugen-Marsches sowie der österreichischen Hymne vereinigten sich Musiker, Schauspieler und Balletttänzer mit den Zuschauern zu einem gemeinsamen Chor.
Als Leopold Kramer in den letzten Kriegstagen 1918 das Amt des Direktors des Neuen deutschen Theaters übernahm, änderte sich die Situation des Kulturlebens grundlegend. Definitiv bildeten die Deutschen eine Minderheit in einem Staat, dessen Amtssprache nun Tschechisch war und in dem das deutsche Theater angesichts der stark reduzierten finanziellen Mittel ums Überleben kämpfen musste. Hinzu kam, dass die tschechische Öffentlichkeit und ein bemerkenswerter Teil der Kulturträger des Landes lautstark eine „Entdeutschung“ des alltäglichen Lebens verlangten. Man forderte eine Konzentration auf die tschechischen Werte. Statt der jahrhundertelangen Verbindung mit den deutschsprechenden Einwohnern und Nachbarn, wollte man sich nun politisch und kulturell nach England und Frankreich ausrichten. Das Prager deutsche Theater war in den Augen der Öffentlichkeit zu einer zweitrangigen Bühne geworden.
Tschechische Zeitungen forderten nun, dass das Theater auch ins Deutsche übersetzte tschechische Stücke aufführen solle, um zum Beispiel den vielen Fremden, die nicht Tschechisch, wohl aber Deutsch verstehen, böhmische Kunst zu vermitteln. Ein Artikel der „Bohemia“ vom 5. Mai 1920 dokumentiert den tiefen Graben, der sich zwischen den beiden Volksgruppen auftat: Für ein solches Projekt seien die Voraussetzungen nicht gegeben, und zwar „solange von tschechischer Seite alles, was deutsch heißt und deutsch ist, hierzulande unverhülltem Hass und böswilliger Verfolgung ausgesetzt ist.“ Über das tschechische Nationaltheater schreibt die Zeitung: „Es boykottiert die deutsche Kunst so konsequent, dass sie nicht einmal eine Wagneroper mehr aufführt, von deutschen Schauspielen ganz zu schweigen. (…) Die deutsche Kunst kann der tschechischen unendlich viel, die tschechische Kunst der deutschen erstaunlich wenig geben.“
Den Höhepunkt der tschechischen Kampagne gegen das deutsche Kulturleben stellte die Besetzung des Ständetheaters am 16. November 1920 durch den Klub der Solisten des Nationaltheaters dar. Bereits seit einem Jahr hatten die Künstler für eine Übernahme des Ständetheaters öffentlich demonstriert. Sie vertrieben den Direktor und Dramaturg des Hauses, am Abend feierten sie die gewaltsame Übernahme mit der Aufführung von Smetanas „Die verkaufte Braut“. Staatspräsident Masaryk verurteilte die Besetzung und befahl die sofortige Rückgabe des Theaters an die Deutschen. Doch der für die Aktion verantwortliche Polizeipräsident verweigerte den Befehl. In einem monatelangen Gerichtsverfahren wurde dem deutschen Theater eine Entschädigungssumme zuerkannt. Sie reichte allerdings nur zur Restaurierung der Kleinen Bühne, die ab 1921 als Ersatz für das Ständetheater diente.
Lebendiger Austausch
Trotz der Skandale und Aktionen kam es zwischen den tschechischen und deutschen Kulturträgern zu einem lebendigen Gedankenaustausch jenseits der ideologischen Auseinandersetzungen: Die tschechische Zeitschrift „Národní a Stavovské divadlo“ druckte in fast jeder Ausgabe die Rezension einer deutschen Aufführung ab und veröffentlichte Interviews mit deutschen Autoren oder mit Gästen der deutschen Bühne. Auf der anderen Seite referierte die deutsche Zeitschrift „Der Auftakt“ regelmäßig über tschechische Premieren.
1923 kam es auch auf der Bühne zu einem Durchbruch. Im Neuen deutschen Theater wurde das erste Stück eines tschechischen Autors aufgeführt: Karel Čapeks „Die Sache Makropulos“ in der Übersetzung von Otto Pick. Das Publikum, das nach dem Bericht des „Prager Tagblatts“ zum großen Teil aus „Damen und Herren der besten tschechischen Gesellschaft“ bestand, sparte nicht mit dem Beifall. Als erste tschechische Oper wurde 1924 anlässlich von Smetanas 100. Geburtstag die Oper „Der Kuss“ im deutschen Theater aufgeführt. Das „Prager Tagblatt“ kommentierte: „Nach dem tschechischen Schauspiel ist nun auch die tschechische Oper im deutschen Theater eingezogen. Der Bann, der Werke nachbarlichster Kultur jahrelang ferngehalten, ist gebrochen, die chinesische Mauer hat einen Sprung.“
Im Schatten Hitlers
Als Paul Eger 1932 Direktor des Neuen deutschen Theaters wurde, verschlechterte sich die wirtschaftliche Situation des Hauses dramatisch, da wegen der Wirtschaftskrise die staatlichen Mittel für das Theater erheblich gekürzt wurden. Mit Hitlers Machtübernahme im Januar 1933 suchten viele Emigranten Zuflucht in der Tschechoslowakei. Die Bedrohung aus Deutschland bewirkte, dass Tschechen und Deutsche auf dem Gebiet der Kultur verstärkt die Gemeinsamkeit suchten.
Im Januar 1938 feierte das Neue deutsche Theater sein 50-jähriges Jubiläum. Die „Bohemia“, die in den vergangenen Jahrzehnten häufig gegen eine Tschechisierung des kulturellen Lebens protestiert hatte, hob nun in ihrem Leitartikel vom 1. Januar mit „Genugtuung und Freude“ hervor, dass der heftige Kampf um die kulturelle Hegemonie zwischen Tschechen und Deutschen in den letzten Jahren einem „ersprießlichen Wettstreit der Künste“ gewichen sei.
Dem neugegründeten „Klub der tschechischen und der deutschen Bühnenangehörigen“, der sich seit den dreißiger Jahren gegen den zunehmenden Einfluss der Sudetendeutschen Partei auf das Kulturleben zur Wehr setzte, gelang es, deutsche und tschechische Schauspieler für eine gemeinsame Aufführung des Lustspiels „Der Tscheche und der Deutsche“ von Jan Nepomuk Štěpánek zu gewinnen. Die Premiere fand im Ständetheater vor überfülltem Hause statt. In der ehemaligen Kaiserloge hatte Staatspräsident Edvard Beneš Platz genommen. Den Anwesenden war die Symbolik der Aufführung gegenwärtig: Štěpánek war der erste Tscheche, der im Jahr 1824 eine leitende Funktion im Ständetheater übernommen hatte und dessen Stück – in dem es zwischen einer zerstrittenen deutschen und tschechischen Familie zur Versöhnung kommt – nun zum ersten Mal in diesem Theater aufgeführt worden war. Mehr als 15 Jahre nach der gewaltsamen Besetzung des Ständetheaters war kein deutsches Wort mehr von der Bühne erklungen. Die Besonderheit der Inszenierung bestand darin, dass tschechische Schauspieler die Rollen der Deutschen übernahmen, während deutsche Schauspieler die Tschechen spielten.
Im Juni 1938 gelang es der Sudetendeutschen Partei mit ihren Anhängern die Leitung des deutschen Volksbildungswerkes „Urania“, das vor allem durch Rundfunksendungen Beiträge zum deutschen Kulturleben ausstrahlte, mit ihren Anhängern zu besetzen. Anfang September 1938 besetzten Mitglieder der Sudetendeutschen Partei die Theater in den Grenzstädten Eger, Reichenberg, Gablonz, Teplitz, Brüx, Aussig und Troppau. Sie gründeten die „Völkische Theaterkammer“, eine Kopie der Reichsdeutschen Theaterkammer und wählten für elf deutsche Theater eigene Direktoren. Nur das Prager deutsche Theater wurde noch von seinem ursprünglichen Direktor Paul Eger geleitet. Am Tag des Münchener Abkommens verließ Eger schließlich die Stadt und emigrierte in die Schweiz. Am 2. November titelte die Bohemia: „Prag ohne deutsches Theater. Das Spiel ist aus; das Prager deutsche Theater hat aufgehört zu bestehen.“
Sprungbrett für Janáček
Das Prager deutsche Theater habe dem tschechischen Theater ein Tor zur Welt geöffnet. Zu diesem Ergebnis gelangt Jitka Ludvová am Ende ihres Buches. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts war das tschechische Theater vom deutschen abhängig: Es besaß kein eigenes Gebäude, tschechische Schauspieler und Sänger waren Mitglieder des Ensembles, tschechische Theaterstücke gab es kaum. Das tschechische Theater konnte sich zunächst nur im Schoß des deutschen Theaters entwickeln. Doch an der Wende zum 20. Jahrhundert erwachte bei den Prager Deutschen das Interesse für die neuen tschechischen Werke.
Ludvová verweist unter anderem auf Leoš Janáček, der zunächst von tschechischer Seite kaum Anerkennung fand und der den Prager Deutschen und ihrem Theater seinen späten Weltruhm verdankt. Max Brod übersetzte seine Opern ins Deutsche, deutsche Dirigenten und Sänger aus Prag entdeckten Janáčeks Originalität. „Jenůfa“ war beispielsweise die erste Oper, die Otto Klemperer 1918 in Köln aufführte. Begeistert wurde der 70-jährige Janáček gefeiert, der erst jetzt den längst verdienten Ruhm erhielt, den ihm tschechische Kritiker verweigert hatten. Jitka Ludvovás Resümee lautet: Nicht nur Janáček, sondern auch anderen Künstlern öffneten Persönlichkeiten aus der deutschen Kulturszene in Prag die Türen, durch die die tschechische Kultur ihren Platz in der Welt erobern konnte.
Auf unbestimmte Zeit verschoben
„Theater sind unersetzlich“