„Eine Amnestie ist Chance und Last zugleich “
Lenka Ouředničková fordert eine alternative Gestaltung des Strafsystems
9. 1. 2013 - Interview: Franziska Neudert, Foto: RUBIKON
Lenka Ouředničková ist stellvertretende Direktorin von RUBIKON Centrum, einer Nichtregierungsorganisation im Bereich Kriminalprävention und Reintegration ehemaliger Straffälliger in die Gesellschaft. Sie begleitet Betroffene bei ihren ersten Schritten in die Freiheit und leistet Hilfestellung bei alltäglichen Problemen wie Behördengängen und Wohnungssuche. Mit Ouředničková sprach PZ-Redakteurin Franziska Neudert über die praktischen Implikationen der Amnestie und das tschechische Strafsystem.
Was bedeutet eine Amnestie in solch großem Umfang für die Gesellschaft?
Ouředníčková: Die Amnestie betrifft etwa jeden dritten Häftling. Normalerweise werden aus tschechischen Gefängnissen jährlich rund 13.000 Gefangene entlassen. Nun kommt mit einem Schlag mehr als die Hälfte dieser Zahl frei. Das bedeutet nicht nur für überfüllte Gefängnisse eine große Erleichterung, sondern auch für die Staatskasse. Ein Häftling kostet den Staat etwa 1.000 Kronen am Tag. Der monatliche Betrag, der nun eingespart werden kann, liegt also bei über 210 Millionen Kronen. Wieviel davon tatsächlich gespart werden kann, hängt letztlich von der erfolgreichen Integration der Amnestierten in die Gesellschaft ab. Das ist die Herausforderung, auf die wir uns nun konzentrieren müssen.
Mit welchen Schwierigkeiten sehen sich die ehemaligen Häftlinge, aber auch die Organisationen, die sich mit deren Integration beschäftigen, konfrontiert?
Ouředníčková: Die meisten Entlassenen treffen zunächst auf ganz grundlegende Probleme. Sie haben keine gesicherte Arbeit, sind meist hoch verschuldet und wissen nicht, an wen sie sich wenden sollen. Die Häftlinge sind ja vor der Amnestie nicht auf ihre Freiheit vorbereitet worden. Die schwierigste Aufgabe – soll der Weg nicht wieder zurück ins Gefängnis führen – besteht darin, ihnen wieder zurück ins tägliche Leben zu helfen. Diese Aufgabe liegt bei der Gesellschaft. Eine Amnestie bedeutet aber nicht nur eine Chance, sondern auch eine große Last für Organisationen, die sich mit der Integration von Straftätern beschäftigen. Hierfür ist die Zusammenarbeit zwischen Arbeitsämtern, Bewährungshilfe und NGO’s grundlegend.
Wie beurteilen Sie das tschechische Strafsystem? Es wird immer wieder beanstandet, dass zu schnell Haftstrafen verhängt werden und dadurch die Gefängnisse überfüllt sind.
Ouředníčková: Dass fast 7.500 Häftlinge von der Amnestie betroffen ist, zeigt schon, dass mit der Haftstrafe sehr freigiebig umgegangen wird. Es handelt sich bei diesen Fällen ja nicht um Schwerverbrechen. In den vergangenen 20 Jahren gab es durchaus positive Veränderungen: Zum Beispiel alternative Strafen und außergerichtliche Verfahren, die sich mit Kriminalfällen befassen, oder die Einrichtung einer Bewährungshilfe. Dennoch wird nach wie vor sehr schnell zur Haftstrafe gegriffen, auch wenn es sich bei den Straftaten um weniger schwere Delikte handelt. Derzeit kommen 230 Häftlinge auf 100.000 Einwohner. Der europäische Durchschnitt liegt bei 140. Am Ende bedeutet dies für die Gesellschaft die kostspieligste Strafe, da sie die Bestraften aus der Gesellschaft ausgliedert und damit ihre nachfolgende Integration erschwert.
Gibt es alternative Konzepte?
Ouředníčková: Ziel ist die Suche nach Wegen, die weniger kostenaufwendig, dafür umso effektiver sind. Straftäter sollten nur ins Gefängnis geschickt werden, wenn ihre Isolation zum Schutze der Gesellschaft notwendig ist. Es sollten mehr Programme zur Integration Betroffener von staatlichen und nichtstaatlichen Organisationen initiiert werden. Eine Integration in Freiheit ist wesentlich billiger und effektiver als nach einem Freiheitsentzug. Dadurch würde außerdem das soziale Leben des Straffälligen nicht gleich ruiniert.
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