Eine Brücke in die alte Welt
In Europas neuer Mitte gefällt Görlitz dank einer historisch intakten Altstadt an lieblicher Flusslage
2. 10. 2014 - Text: Julia MiesenböckText: Julia Miesenböck; Foto: Europastadt Görlitz
Wenn die Turmuhr der Dreifaltigkeitskirche auf dem Görlitzer Obermarkt zur vollen Stunde schlägt, sieht man den einen oder anderen Passanten etwas verwirrt auf den eigenen Zeitanzeiger blicken. Eigentlich sollte die Turmuhr nämlich erst in sieben Minuten schlagen. Die Kontrolle an der nächstgelegenen öffentlichen Zeitangabe am nahen Rathaus bestätigt die Skepsis. Doch warum schlägt die Turmuhr des „Mönch“, so der Name des Glockenturms, sieben Minuten zu früh? Der voreilige Stundenschlag vom frühgotischen Sakralbau herab ist nur eines von zahlreichen Relikten aus dem historischen Erbe der östlichsten Stadt Deutschlands.
Görlitz liegt nur rund 40 Kilometer nördlich des Dreiländer-ecks bei Zittau, Bogatynia und Hrádek nad Nisou. Von Prag aus sind es knapp zweieinhalb Stunden bis zur sächsisch-schlesischen Grenzstadt. Und doch ist Görlitz hierzulande ein weitestgehend unbekanntes Reiseziel. Das erstaunt, wenn man sich die reiche Stadtgeschichte bewusst macht, die sich auch in der prachtvollen Architektur niederschlägt. Die gut erhaltenen historischen Bauten von der Romanik bis zur Gründerzeit machen Görlitz zu einem Geheimtipp für Städteurlauber.
1071 erstmals urkundlich als slawische Siedlung „Goreliz“ erwähnt, kam die Ortschaft nur kurze Zeit später unter die Herrschaft der böhmischen Krone. Dieser gehörte sie mit wenigen Unterbrechungen bis ins 17. Jahrhundert an. Der jahrhundertelange slawische Einfluss manifestiert sich auch im weit verbreiteten Familiennamen Kretschmer, der sich aus dem polnischen beziehungsweise tschechischen Begriff für Schankwirt „karczmarz“ oder „krčmař“ ableitet.
Görlitz lag am strategisch wichtigen Schnittpunkt bedeutender europäischer Handelswege. So führte unter anderem auch die Via Regia von Santiago de Compostela über Frankreich, Deutschland und Polen bis nach Kiew durch die aufstrebende Stadt. Aus der hochmittelalterlichen Siedlung wuchs schnell eine regionale Handelsmetropole. Handwerker und Kaufleute erkannten in der Stadt einen geeigneten Ort für ihr Gewerbe. Insbesondere Färber und Tuchmacher ließen sich in Görlitz nieder. Die Stadt hatte im 14. Jahrhundert das Monopol für den Handel mit einer besonders nachgefragten Färberpflanze inne, dem Waid. Die Einwohnerzahl stieg rasant an. Neben Erfurt und Breslau zählte Görlitz bald zu den größten Städten Mitteldeutschlands.
Internationales Flair
Dem Besucher präsentiert sich die geschäftige Vergangenheit der Stadt durch die zahlreichen Häuser rund um einen kleineren zentralen Platz, den Untermarkt. Da es keine großen Tuchhallen gab, wo man die exquisiten Produkte sonst hätte feilbieten können, suchten die Kaufleute nach einer praktischen Alternative, um ihre Waren der Kundschaft zu präsentieren. So entwickelte sich mit dem Görlitzer Hallenhaus ein einzigartiger Bautyp. Dessen imposante Räumlichkeiten mit dem hellen Innenhof und den hohen Kreuzgewölben dienten nicht nur als Verkaufsräume, sondern auch als Produktions- und Lagerstätte. Aufwendig verzierte Fassaden mit Stuckreliefs und Sgraffiti zeugen vom Reichtum der Kaufleute.
Heute beheimaten die meisten Hallenhäuser ein Hotel oder Restaurant und so wird die Übernachtung oder das Abendessen zu einer kleinen kunsthistorischen Expedition. In den Biergärten und Außenbereichen der Gaststätten kommt unverzüglich italienisches Flair auf. Kein Wunder, die böhmischen Baumeister lernten ihr Handwerk schließlich auf der Apennin-Halbinsel. International präsentiert sich auch die kulinarische Szene Görlitz’. Neben mediterraner Küche lohnt es sich, typische Spezialitäten der Lausitzer, der schlesischen oder böhmischen Küche zu probieren. Gourmets empfiehlt sich außerdem ein Ausflug in die lokale Braumanufaktur von „Landskron“, die nicht nur Führungen über den Herstellungsprozess, sondern auch exquisite Gerichte in Kombination mit aromatischen Biersorten aus eigenem Hause anbietet.
Görlitz erweckt mit seinen insgesamt 4.000 Baudenkmälern den Eindruck, beim Spaziergang durch die Altstadt auf Zeitreise zu sein. Das verdankt die Stadt vor allem dem Umstand, dass sie im Zweiten Weltkrieg von alliierten Bomben verschont wurde. Um viele dieser historischen Bauwerke ranken sich Legenden. Einige davon erklären auch den verfrühten Glockenschlag des „Mönch“. Unter anderem erzählte man sich, dass die Uhr vorgeht, damit die Ratsherren auch wirklich pünktlich zum Mittagessen erschienen oder die Langschläfer unter den Schülern des nahegelegenen Klostergymnasiums nicht zu spät zum Unterricht kamen. Eine andere Erklärung hängt mit einer angeblichen Verschwörung der Görlitzer Bürger gegen den Stadtrat zusammen. Diese sei zufällig aufgeflogen, weil die Turmuhr sieben Minuten zu früh schlug. So oder so ist es vielleicht besser, sich auf die Sonnenuhr an der Ratsapotheke zu verlassen.
Vom Untermark führt der Stadtspaziergang in Richtung Osten vorbei an der spätgotischen Peterskirche mit ihrer berühmten Sonnenorgel und weiter zum Ufer der Neiße. Von hier aus sind es nur wenige Schritte und man gelangt in die polnische Schwesterstadt Zgorzelec auf der anderen Flussseite. Mit ihr bildet die Gemeinde seit 1998 in enger kultureller und politischer Zusammenarbeit die sogenannte „Europastadt Görlitz“.
Hollywood zu Gast
Seit den fünfziger Jahren hat sich Görlitz auch einen Namen als Filmstadt gemacht. Über 70 Großproduktionen wurden hier seitdem schon gedreht. Handelte es sich anfangs meist um kleinere nationale Produktionen, so hat inzwischen sogar Hollywood das Städtchen als Drehort entdeckt. Namhafte Regisseure wie Quentin Tarantino oder Wes Andersen drehten hier Kultfilme wie „Inglourious Basterds“ und „The Grand Budapest Hotel“. Aufgrund der gut erhaltenen Architektur finden Produktionen für fast jede historische Epoche eine authentische Kulisse. So hat Görlitz bereits das Straßburg des 18. Jahrhunderts oder das Paris des 19. Jahrhunderts abgebildet. Für Wes Andersens erwähnten Streifen diente neben dem Untermarkt eine besondere Sehenswürdigkeit als Drehort: das Görlitzer Warenhaus. Es gilt aufgrund seiner prachtvollen Jugendstilarchitektur und dem aufwendig gestaltetem Kuppeldach aus Glas als eines der schönsten Kaufhäuser Deutschlands. Der über 100 Jahre alte Bau wird zurzeit renoviert; erst 2016 wird er sich den Besuchern in seinem Glanz wieder präsentieren.
Schlendert man vom Warenhaus aus weiter durch die Berliner Straße, erschließt sich das elegante Gründerzeitviertel. In der Straßburg-Passage, dem repräsentativen Zentrum des Stadtteils, laden Geschäfte und Cafés zum Einkehren ein.
Die Europastadt Görlitz hat viele Gesichter. So kommen auch Naturverbundene auf ihre Kosten. Südwestlich der Stadt erhebt sich die „Landeskrone“, mit ihren 420 Metern die höchste Erhebung der Region. Von hier aus bietet sich ein fantastischer Ausblick auf Görlitz und seine unmittelbare Umgebung. Der Bernsdorfer See, ein geflutetes Tagebauareal direkt vor den Toren der Stadt, ermöglicht außerdem ideale Bedingungen zum Wandern, Radfahren oder Inline-Skaten. Und durch seine Lage nahe dem Dreiländereck eignet sich die Stadt auch bestens als Ausgangspunkt für Reisen in die Nachbarländer, in das polnische Wrocław, in die malerische Berglandschaft des tschechischen Isergebirges oder entlang eines Radwegs ins nordböhmische Nová Ves, an den Ursprung der Neiße.
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