Eine Geschichte aus Licht und Schatten
Glanzvolle Wiederaufführung nach 100 Jahren – Arte zeigt den rekonstruierten Stummfilm „Der Student von Prag“
10. 4. 2013 - Text: Josef NagelText: Josef Nagel; Foto: FFM/ZDF
Am 22. August 1913 feierte im Mozartsaal am Berliner Nollendorfplatz ein Film seine Uraufführung, der zu einem Meilenstein der Kinematografie werden sollte. „Der Student von Prag“, ein fantastisches Drama in vier Akten, verfasst und inszeniert von Hanns Heinz Ewers, markiert den Übergang vom Jahrmarkt-Kino zum anspruchsvollen, gleichwohl populären Kinostück. Die 20.000 Mark teure Stummfilm-Produktion des deutschen Filmunternehmens Bioscope brachte im Gegensatz zur französischen Konkurrenz, dem „Film d’art“, erstmals einen originalen Stoff auf die Leinwand.
Ewers (1871–1943), einer Düsseldorfer Künstlerfamilie entstammend, war ein früher Verfechter der siebten Kunst und als Erfolgsautor Skandalen nicht abgeneigt. Sein Film variiert das Faust-Motiv vom Verkauf der eigenen Seele um das Doppelgänger-Motiv, um die Geschichte vom Ich, das auch ein Anderer ist. Romantisch-fantastische Elemente entstammen Vorbildern wie E. T. A. Hoffmann, Adalbert von Chamisso, Oscar Wildes „Das Bildnis des Dorian Gray“ oder Edgar Allan Poes „William Wilson“.
Ehrliche Kunst
Im Prag des Jahres 1820 lebt der Student Balduin (Paul Wegener) in bescheidenen Verhältnissen, obwohl er als bester Fechter der Stadt gilt. Eines Tages offeriert ihm der zwielichtige Wucherer Scapinelli (John Gottowt) 100.000 Goldgulden, eine vorteilhafte Vermählung und gesellschaftlichen Aufstieg, falls er dafür sein Spiegelbild veräußere. Balduin nimmt den Handel an, genießt das neue Leben. Er rettet Komtesse von Schwarzenberg (Grete Berger) das Leben, wird ihr Verehrer und verkehrt in den besten Kreisen. Seine Kommilitonen, die jede Skat-Runde mit dem Neureichen verlieren, sehen die Entfremdung mit Sorge. Als eine Zigeunerin (Lyda Salmonowa) aus Eifersucht das Rendezvous Balduins mit der Komtesse auf dem Jüdischen Friedhof an den adeligen Verlobten verrät, tötet der Doppelgänger den Konkurrenten.
Die Außenaufnahmen zu „Der Student von Prag“ fanden an pittoresken Schauplätzen im mittelalterlich wirkenden Prag statt: vor und im Hradschin, auf dem Jüdischen Friedhof, im Schloss Belvedere, in den Palais Fürstenberg und Lobkowitz. Mitwirkende waren die erste Garde Berliner Theaterschauspieler, nachdem wenige Jahre zuvor der Kintopp von den Künstlern noch als niedere Ausdrucksform verschmäht wurde. „Dieses Stück bildet den Anfang einer Schwenkung zur Veredelung des Kinos und zum Hinaufziehen der langsam verblödeten Menge auf eine wieder höhere Stufe. Wir sehen dem Kommenden gespannt entgegen. Die Aufnahmen dieses Films waren von überraschender Wirkung, allerdings stark auf den Effekt zugeschnitten, aber dies gehört nun einmal zum Film“, hieß es in einer Premieren-Kritik.
Der Film besitzt eine stark autobiografische Note. Hanns Heinz Ewers, sein Schöpfer, war während eines Jurastudiums mehr dem Nachtleben zugetan als den universitären Pflichten. Der Publikumserfolg entschädigte den Regisseur: „Alles das, was heute beim Film die Hauptsache ist, war uns vollkommen gleichgültig – nur auf das eine kam es uns an, den Beweis zu erbringen, dass man auch beim Film gute und ehrliche Kunst zeigen und damit auch in die allerweitesten Schichten einen großen Erfolg erzielen könne“, resümierte er später.
Phantome und Dämonen
Trotz ihrer herausragenden Bedeutung ist die Originalversion von „Der Student von Prag“ nicht überliefert. Erhalten haben sich lediglich eine 1926 umgeschnittene Wiederaufführungsfassung sowie gekürzte Exportkopien. Eine erste Rekonstruktion des Films erfolgte 1987 unter der Leitung von Wilfried Kugel, der auch an dieser neuen, vom Münchner Filmmuseum digital rekonstruierten Version mitwirkte. Dabei stützte man sich auf das Exposé des Autors und die originale Klavierpartitur von Josef Weiss.
Der Kulturkanal „Arte“ zeigt am 16. April um 23.40 Uhr die vorzüglich viragierte Fassung (verschieden monochrome Einfärbung der Sequenzen) mit der Originalmusik von Josef Weiss, die vom Orchester Jakobsplatz München neu eingespielt wurde. Die Musik des Franz-Liszt-Schülers Weiss nimmt die sogenannte Leitmotiv-Technik von Richard Wagner auf. Sie unterstützt das theatralische Spiel von Paul Wegener, versteht es aber gleichzeitig, jenseits der bloßen Untermalung eigene Akzente zu setzen. So fungiert die Polonaise als Metapher für die dekadente, aristokratische Gesellschaft. Für das studentische Milieu und Alltagsleben stehen eingängige Volkslieder, Ländler und Mazurken.
Kameramann Guido Seeber zählte zur künstlerischen Avantgarde, schuf mit Doppelbelichtungen und Arrangements von Vorder- und Hintergründen in „Der Student von Prag“ eine bis dahin unbekannte Präsenz. „Menschen schrien im Parkett auf“, notierte ein Berichterstatter, „und wagten nicht, auf die Leinwand zu sehen, da sie dort zweimal leibhaftig dieselbe Gestalt sahen. Unmögliches war in diesem Film fotografische Wirklichkeit geworden.“ Die banale Geschichte um Balduins Paranoia vermittelte eine dem Bildungsbürgertum allzu gegenwärtige Identitätskrise und Analyse mit Unterhaltungswert. Die Unheimlichkeit des Blicks, die Dämonen der Leinwand, die Phantome der Nacht – sie kündigen den Verlust der sozialen Ordnung, einen Strukturwandel der Gesellschaft kurz vor dem Ersten Weltkrieg an. Mit seinem fantastischen Sujet war der „Student von Prag“ Wegbereiter für den deutschen expressionistischen Film der zwanziger Jahre, wie etwa Robert Wienes „Das Cabinet des Dr. Caligari“ oder F. W. Murnaus „Nosferatu“. Das hier praktizierte Zusammenwirken aller Filmschaffenden führte bald zur Auflösung der vorherrschenden Personalunion von Produzent, Autor, Regisseur und Kameramann. Bei einem ausgefeilten, knapp neunzig Minuten langen Film war dieses Arbeitsprinzip nicht mehr zu halten.
„Markus von Liberec“
Geheimes oder Geheimnistuerei?