Eine (grausame) Welt
Dokumentarfilmfestival „One World“: Direktorin Hana Kulhánková über Menschenrechtsfilme mit Happy End, entlassene Neonazis und junge Hoffnungsträger
27. 2. 2013 - Interview: Martin Nejezchleba, Titelbild: Jeden svět
„Jeden svět“ oder – für das internationale Publikum – „One World“: So heißt das weltweit größte Dokumentarfilmfestival für Menschenrechte. Von 4. bis 13. März findet es in neun Prager Kinos satt, danach reist es in 40 weitere tschechische Städte, im Mai dann nach Brüssel. Im Gespräch mit PZ-Redakteur Martin Nejezchleba verrät Festivalleiterin Hana Kulhánková, wie man die Welt in all ihrer Grausamkeit zeigt, ohne die Zuschauer zu deprimieren.
Das Dokumentarfilmfestival „Jeden svět“ läuft zum 15. Mal. Sie leiten das Festival zum vierten Mal. Hat sich „Jeden svět“ in den vergangenen Jahren verändert?
Kulhánková: Das Publikum hat sich verändert und das Festival ist populärer geworden. Heute kommen auch Leute in die Kinos, die nicht mehr nur primär an Menschenrechtsfragen interessiert sind. Sie kommen, weil es cool ist, zu „Jeden svět“ zu gehen. Und weil sie wissen, dass sie dort viele Informationen erhalten, etwa über andere Länder, in die sie vielleicht reisen möchten. Das hängt mit der veränderten Dramaturgie zusammen. Ich versuche, vermehrt Filme ins Programm zu nehmen, die nicht auf den ersten Blick nur mit Menschenrechten zu tun haben: künstlerische Filme oder solche mit etwas leichteren Themen. Genau solche Beiträge können Leute dazu anregen, über die größeren, ethischen Fragen nachzudenken.
Wer sind denn die Zuschauer von „Jeden svět“?
Kulhánková: Im vergangenen Jahr haben wir dazu eine soziologische Studie in Auftrag gegeben. Die meisten haben eine akademische Ausbildung, kommen aus unterschiedlichen Fachbereichen von Geisteswissenschaften bis zu technischen Studiengängen. Mehr als die Hälfte unserer Zuschauer sind Frauen. Interessant war auch zu erfahren, dass 20 Prozent der Zuschauer zum ersten Mal auf dem Festival waren. Das bewdeutet, dass jedes Jahr Leute auf das Festival kommen, die überhaupt keine Ahnung haben, was „Jeden svět“ ist, die nicht wissen, was „Člověk v tísni“ ist und die sich auch nicht für Menschenrechte interessieren.
Haben Sie nicht manchmal Gewissensbisse? Immerhin bescheren sie diesen Leuten mit Filmen über die großen Probleme der Menschheit zum Teil recht deprimierende Kinobesuche.
Kulhánková: Warum nicht so ein Gefühl vermitteln? Es ist doch gut, wenn die Festivalbesucher aufhören zu denken, dass sie in einer problemfreien Blase leben. Die Welt ist grausam. Die Welt in unserer Nähe ebenso wie die, die weiter entfernt ist.
Der diesjährige Schwerpunkt lautet „Habt ihr Angst vor Toleranz?“. Auf was möchten Sie damit hinweisen?
Kulhánková: Wir wollten zu Themen zurück, die uns in Tschechien und in den Nachbarländern direkt betreffen. Auslöser waren die rassistischen Unruhen, die im Sommer 2011 Nordböhmen erschüttert haben. Aktuell wurde das Bild einer intoleranten Gesellschaft durch die Kampagne zur ersten direkten Präsidentschaftswahl bestätigt, bei der manche Kandidaten einen sehr aggressiven Ton gewählt haben. Die Medien haben auf beide Fälle sehr unreflektiert reagiert, haben vereinfachend und ohne Hintergründe berichtet. In Tschechien zu leben ist wahnsinnig schwer für jemanden, der von der Mehrheitsbevölkerung abweicht – sei es für Ausländer, Menschen mit anderer Hautfarbe, anderer sexueller Orientierung oder mit einer Behinderung.
Unsere Botschaft ist nicht, dass wir die Leute lieb haben müssen, weil sie anders sind. Vielmehr wollen wir zeigen, wie die tschechische Mehrheitsgesellschaft auf Andersartigkeit reagiert. Wir haben ein Programm zusammengestellt, dass die negativen Seiten verdeutlicht und gleichzeitig positive Geschichten erzählt, von Leuten, die anders sind und trotzdem tolle Menschen mit einem wunderschönen Leben sind.
Warum entsteht gerade in einem Land, dessen Bevölkerung Sie als intolerant und unaufgeschlossen kritisieren, das größte Festival mit Dokumentarfilmen für Menschenrechte?
Kulhánková: Ich glaube nicht, dass die Tschechen nur verschlossen und desinteressiert sind. In den letzten Jahren entstehen immer mehr Bürgerinitiativen, die die Dinge vor Ort verändern möchten. Wir haben nicht mehr die Angst, die noch die Generationen unserer Eltern und Großeltern hatte. Eine neue Generation wächst heran, die die Dinge anders angeht als zuvor.
Ist es denn Zufall, dass das größte Filmfestival seiner Art ausgerechnet in Prag entstanden ist?
Kulhánková: Das glaube ich nicht. „Člověk v tísni“ war gerade im Entstehen. In Jugoslawien war Krieg und Igor Blaževič, einstiger Direktor von „Jeden svět“, ist nach Tschechien ausgewandert. Es gab nur wenige Informationen darüber, was in seinem Land wirklich passiert. Igors Frau ist Filmemacherin und er war sich im Klaren darüber, dass das Medium die Chance bietet, viele Leute zu erreichen. So ist das Festival entstanden.
Zurück zum aktuellen Jahrgang. Gibt es einen Film, den Sie dem deutschsprachigen Publikum empfehlen möchten?
Kulhánková: Den Film „Nach Wriezen“ etwa habe ich vom IFDA-Festival in Amsterdam mitgebracht. Der junge Regisseur wird nach Prag kommen, der Film läuft im Hauptwettbewerb. Er arbeitet mit sehr einfachen filmerischen Mitteln. Es geht um drei Jungs, die gerade aus dem Jugendgefängnis entlassen wurden. Einer von ihnen ist Neonazi und hat jemanden zu Tode getreten. Sonst bleibt die Vergangenheit der Jungen aber im Dunkeln. Dennoch ist es eine sehr intime Studie der drei Schicksale, die sehr ähnlich verlaufen. Er zeigt, wie schwierig der Weg zurück in die Gesellschaft ist, wann man in seiner Jugend etwas verbrochen hat und dass es oft nicht nur an einem selbst liegt, ob es gelingt. Der Film zeigt dem Zuschauer das Leben in seiner ganze Härte.
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Tarantinos neunter Streich