Eine Reise durch die Kreise

Eine Reise durch die Kreise

Unterwegs in der Region Liberec: Dichte Wälder und sportliche Ingenieure

13. 7. 2016 - Text: Corinna AntonText: Corinna Anton; Foto: Milan Drahoňovský/Czech Tourism

Prag kennen alle, Brünn viele und Ostrava noch einige – aber wer war schon mal in Mimoň oder in Hořovice? Und wie lebt es sich eigentlich fern der Hauptstadt? Rümpft man dort wirklich die Nase über das Prager Kaffeehausgeschwätz und glaubt alles, was Präsident Zeman sagt? Die PZ unternimmt in den nächsten Monaten eine Reise durch die Kreise und beginnt sie in und um Liberec.

Die Natur, die „Schönheit Böhmens“, die Versorgung mit allem Nötigen in der Stadt – Nikola ist zufrieden mit dem Leben in der Region. Nur eine Sache fällt der Rentnerin ein, die ihr gar nicht passt: „Die Geschichte von Liberec ist verschwunden“, klagt die 60-Jährige und meint damit vor allem die Architektur. „Statt Neues zu bauen, hätte man die alten Gebäude restaurieren sollen. So wie man die Landschaft schützt, hätte man auch die historische Stadt bewahren müssen. Diese gläsernen Einkaufszentren gehören nicht hierher.“

Sie sagt das nur wenige Schritte von der Fassade des Hochhauses „Liberec Plaza“ entfernt. Das Einkaufszentrum – eines von vielen, die man je nach Geschmack als „sehr modern“ oder als „sehr hässlich“ bezeichnen kann – wurde im März 2009 eröffnet. Es umfasst Geschäfte, Luxuswohnungen, ein vierstöckiges Parkhaus für knapp 500 Autos und Büroflächen. Und es befindet sich, wie die Betreiber schreiben, „im historischen Zentrum“, die Besucher haben „direkten Zugang zur Fußgängerzone und zum Edvard-Beneš-Platz“.

In deutschen Ohren klingt es ein bisschen ironisch, dass sich die gelernte Restauratorin Nikola ausgerechnet am Beneš-Platz über das „Verschwinden der Geschichte“ beschwert. Denn Liberec und große Teile des Kreises zählen zum ehemaligen Sudetenland, aus dem nach dem Zweiten Weltkrieg mit den Deutschen auch ein Stück Geschichte vertrieben wurde. Und schließlich war man lange Zeit auch ganz froh, an eben diese Geschichte nicht mehr erinnern zu müssen.

Mittlerweile hat sich das geändert. In kleineren Orten gedenken einzelne Initiativen der deutsch-tschechischen Vergangenheit, das Nordböhmische Museum in Liberec zeigt bis 11. September die „Deutschböhmische Ausstellung – Reichenberg 1906“. Zu sehen sind etwa gläserne Lam­pen­­schirme der Firma Riedel, Exponate aus der Druckerei Gebrüder Stiepel oder Kühlschränke des damals ebenfalls in Liberec ansässigen Unternehmers Julius Habenicht. Erklärende Texte gibt es auf Tschechisch und auf Deutsch. Besucher aus dem Nachbarland sind willkommen, egal ob sie als Touristen in den Kreis reisen oder als Investoren.

Blick auf den Ještěd bei Liberec

Umgekehrt fahren die Bewohner der Region ab und zu über die Grenze nach Deutschland – zum Einkaufen zum Beispiel oder zum Radfahren, erzählt Jan. Er ist vor 18 Jahren zum Studieren nach Liberec gekommen und wegen der Arbeit bis heute geblieben. Aufgewachsen ist er in der Nähe von Šluknov im Kreis Ústí nad Labem. Dort sei es ähnlich wie in der Gegend um Liberec, sagt der Maschinenbauer. Nur dass es dort keine Arbeit gebe und hier eine Menge, zumindest in seiner Branche. Es sei „überhaupt kein Problem, einen Job zu finden“, schwärmt der 36-Jährige.

Dem Tschechischen Statistik­amt zufolge waren im Mai dieses Jahres 5,5 Prozent der Menschen im Kreis Liberec arbeitslos. Weniger Jobsuchende zählte das Statistikamt zuletzt im Dezember 2008. Zwar lag der Kreis knapp über dem landesweiten Durchschnitt. Die Chancen, schnell eine Anstellung zu finden, sind in Liberec und Umgebung jedoch gut: Auf eine freie Stelle kamen im Mai 2,8 Bewerber. In Česká Lípa, etwa 50 Kilometer westlich von Liberec, konkurrierten im Schnitt sogar nur zwei Kandi­daten um einen Job.  

Für Arbeitsplätze in der Region sorgt die Automobilbranche – aber nicht nur. Als „bestes Produkt des Kreises“ wurde kürzlich zum Beispiel die Erdbeer­marmelade von Jan Kakos aus dem Böhmischen Paradies (Český ráj) ausgezeichnet. Mehr als 50 Hersteller hatten an dem Wettbewerb teilgenommen. Ebenfalls auf den vorderen Plätzen landeten glutenfreies Gebäck des Bäckereiunternehmens „Jizerské pekárny“ und Ziegen­gouda von einem Bauernhof unter dem Ještěd, dem knapp über 1.000 Meter hohen Hausberg von Liberec.

Heidelbeeren statt Geheimnis
Es ist Spätnachmittag und Michaela mit zwei ihrer drei Kinder auf dem Weg nach Hause. Ihr ganzes Leben hat die 42-Jährige in Liberec verbracht, weg möchte sie von hier nicht. Dass in den vergangenen Jahren Grünflächen an Investoren verkauft wurden, ärgert sie. Aber insgesamt habe sich die Stadt doch zum Positiven verändert. Eine Bürgerinitiative kümmere sich zum Beispiel darum, dass neue Statuen – moderne Kunst – aufgestellt werden. Es entwickle sich langsam etwas, sagt sie. Dann muss sie weiter, die Kinder sind müde. „Wir waren heute schon auf dem Ještěd“, erzählt die Mutter und schwärmt von den Ausflugsmöglichkeiten in der Gegend.

Knapp zehn Kilometer ist der Ještěd vom Stadtzentrum entfernt. Erklimmen kann man ihn auf vielen Wegen – und unterwegs wunderbar Heidelbeeren sammeln. Der Fußweg zum Gipfel kann selbst an einem Feiertag recht einsam sein, weil sich die meisten Besucher für die Bahn oder das Auto entscheiden. Oben herrscht bei gutem Wetter aber reger Betrieb. Die geheimnisvolle Stimmung, die man erwartet, wenn man den hier angesiedelten Roman „Grandhotel“ von Jaroslav Rudiš gelesen hat, sucht man vergeblich. Aber finden kann man sie in der Region ganz bestimmt. Nur eben an einem anderen Ort, vielleicht auch an einem anderen Tag.

Heidelbeeren warten auf dem Weg hinauf zum Ještěd.

Der Ort könnte zum Beispiel Hradčany sein, der Tag ein drückend heißer, der fast unausweichlich mit einem Gewitter enden muss. Gerade war man mit dem Fahrrad noch in Doksy und am Mácha-See unterwegs (wo es weniger romantisch war, als der Name des Dichters vermuten ließ, weil man dort in kleinen Hütten am Strand günstig Urlaub machen kann – mit Bier vom Kiosk, Wurst im Brötchen und auf Wunsch sogar mit kantinenartiger Vollpension). Man fuhr an blühenden Mohnfeldern vorbei, schob das Rad durch den Sand, durchquerte ein ehemaliges Militärgelände und einen Wald mit beeindruckenden Felsen, als sich die dunklen Wolken immer weiter zusammenzogen.

„Doch nicht bis nach Prag?“
In Hradčany strandete man eher gezwungenermaßen und fand kurz vor dem Wolkenbruch eine – ja, was eigentlich? Ein Einheimischer hatte von einem „Hotel“ gesprochen, aber übernachten kann man nicht. Wer vor dem Gewitter flüchtet, wird großzügig geduldet, aber nicht weiter beachtet. Eine Frau steht hinter dem Tresen und verkauft Getränke, den Platz im großen, dunklen Saal muss man sich selbst suchen. Als der Zigaretten­automat an einer Seitenwand kaputtgeht, wählt die Frau hinterm Tresen eine Nummer. „Wo rufen Sie da an“, fragt ein Gast, „doch nicht etwa bis nach Prag?“

Etwa 100 Kilometer wären es mit dem Auto zurück in die Hauptstadt. Doch wie weit sie tatsächlich entfernt ist, bekommen Touristen zu spüren, die mit dem Zug dorthin wollen. Hradčany hat keinen Bahnhof und im fünf Kilometer entfernten Mimoň fährt erst einmal zwei Stunden nichts. Beim Gewitter sind Bäume auf die Gleise gefallen. Ob man nach Česká Lípa oder nach Liberec will, ist egal, denn die Strecke ist in beide Richtungen gesperrt. Die Bahnhofskneipe ist voll. Auch eine Einheimische sitzt hier, obwohl sie vorher in der Ortsmitte behauptet hatte, sie wisse nicht, wo es zum Bahnhof gehe. Ein Fernseher läuft, geredet wird nicht viel. Schließlich kommt ein Zug, von dem niemand so genau weiß, wohin er fährt und der Schaffner rät, in Česká Lípa auszusteigen und auf einen Anschlusszug nach Mladá Boleslav zu warten. Der sollte gleich einfahren. Die Bäume seien weggeräumt.

Am Bahnhof von Česká Lípa kommt es fast zu einer Schlägerei, weil dort etwa zwei Dutzend Reisende offenbar schon mehrere Stunden festsitzen. Zur Statistik des Arbeitsamtes passt der Bahnhof nicht. Die Uhr ist stehengeblieben, zu kaufen gibt es nichts, die Bänke sind wegen Renovierungsarbeiten abgebaut und die Ersatzbusse, die vorfahren, waren wahrscheinlich schon vor der Wende im Einsatz. Den wartenden Reisenden erklärt ein Mann mit Uniform und roter Mütze, er arbeite nicht im Auftrag der Tschechischen Bahn, daher sei er nicht für das Chaos verantwortlich. Für wen er denn dann arbeite, erfährt man nicht, auch nicht, wann der Zug kommt. Nur dass angeblich nun wieder andere Bäume umgefallen seien. Es wird wohl stimmen, dass der Kreis Liberec der waldreichste des Landes ist.

Rathaus in Liberec

„Ein bisschen zu dominant“
Zurück in Prag hat man das Gefühl, dass sich in der Hauptstadt alle schneller bewegen als in Liberec oder gar Mimoň. Etwas muss die Gegend im Norden wohl haben, was zum Verweilen einlädt und das Leben irgendwie gemütlicher macht. Aber woher kommt das? Einer, der das vielleicht erklären kann, ist Ondřej Matějka, Historiker aus Liberec und Wahlprager. „Die Natur dort ist herrlich“, sagt er. „Doch in den vielen Bergen war das Leben in der Vergangenheit recht schwer.“ Erst spät, mit der Industrialisierung, habe der Aufbau begonnen. „Die wirtschaftliche Erfolgsgeschichte der Region wurde und wird durch tüchtige Unternehmer, Kaufleute, Handwerker, Techniker und Ingenieure geschrieben“, so der stellvertretende Leiter des Instituts für das Studium totalitärer Regime. Städte wie Liberec oder Jablonec nad Nisou seien „in wenigen Jahrzehnten fast aus dem Nichts geschossen“. Heute knüpfe man an die „große Aufbauleistung“ an. „Es geht vielleicht nicht mehr so rasant voran, nicht mehr mit der Textil-, sondern eher mit der Autoindustrie, aber es geht weiter.“

Es sei übrigens erstaunlich, fügt der Historiker hinzu, „wie ähnlich sich die deutschen und tschechischen Macher der Region sind“. Sowohl „in den deutschen Zeiten“ vor dem Zweiten Weltkrieg, als auch in den „tschechischen Zeiten“ danach seien die Unternehmer und Ingenieure manchmal ein bisschen zu dominant. „Kultur, Kunst, humanistischer Weitblick, all das steht immer erst an zweiter Stelle.“ Die deutschen Gründer hätten das mit Einrichtungen wie dem Kunstgewerbemuseum und ­Theatern schrittweise nachgeholt.

Heute macht Matějka „eine sonderbare Männergattung“ in der Region aus. Er nennt sie „die sportlichen Ingenieure“, die ihren Titel von der heimischen Universität haben und in der Region blieben, weil man dort im Winter gut Ski fahren und im Sommer gut radeln kann. „An sich sind die sportlichen Ingenieure prima. Tüchtig und leistungsbereit, in jeder Hinsicht“, findet Matějka. „Aber gerade an Liberec, dem Herz der Region, lässt sich deren gewisse Lieb­losigkeit zum Historischen und Kulturellen beobachten. So viel historisches Erbe wurde gedankenlos und unnötig zerstört.“ Zu hoffen bleibt laut Matějka, „dass Kultur nach und nach nicht nur als eine Gelegenheit für ein nettes Bauprojekt verstanden wird, sondern als etwas Lebens­stiftendes. Die wunderbare Region verdient das.“


Liberecký kraj

Fläche: 3.163 Quadratkilometer (Rang 12 von 14 Kreisen)
Einwohner: 438.594 (Rang 13)
Kreisstadt: Liberec (Reichenberg, ca. 102.000 Einwohner)
Höchster Punkt: Kotel (Kesselkoppe), 1.435 Meter über dem Meer
Längster Fluss: Jizera (Iser), 165 Kilometer (davon 90 Kilometer im Kreis Liberec)
Besonderheiten: Im Liberecký kraj liegt der älteste Nationalpark des Landes (Riesengebirge/Krkonoše – seit 1963) und das älteste Landschaftsschutzgebiet (Böhmisches Paradies/Český ráj – seit 1955).