Eine ständige Aufgabe
Eine neue Monografie befasst sich mit tschechischen Konzepten der Bürgergesellschaft
16. 4. 2014 - Text: Volker StrebelText: Volker Strebel; Bild: Vandenhoeck & Ruprecht
Ältere Tschechen dürften sich in diesen Tagen wie nach einem Alptraum die Augen reiben, und sich an den August von 1968 erinnern. Obskure Stimmen bitten um „brüderliche Hilfe“, alsbald rücken fremde Soldaten unter Missachtung der territorialen Souveränität auf den Straßen eines vormaligen Bruderstaates vor. Zur Beschwichtigung wird eine slawische Bruderschaft beschworen und – wie gehabt – die politische Verantwortung den westlichen Demokratien zugeschoben.
Vor einem derartigen Hintergrund gewinnt der vorliegende Band „Zivilgesellschaft und Menschenrechte im östlichen Mitteleuropa“, der sich dem Themenkreis einer Bürgergesellschaft im historischen und nationalen Vergleich widmet, umso mehr an Bedeutung. In drei großen Komplexen nähern sich 14 Wissenschaftler aus den Bereichen Geschichte, Politik und Literatur jenem kulturtypologischen Geflecht, das einer europäischen Zivilgesellschaft ihr unverwechselbares Gepräge verleiht. Die Beiträge belegen, dass sich seit der Aufklärung ein spezifisches Nachdenken, das sich durchaus mit jeweils herrschenden politischen Fremdbestimmungen auseinanderzusetzen wusste, auch im tschechischen Raum nachweisen lässt.
Karel B. Müllers Studie „Zivilgesellschaft und Staat im aktuellen Diskurs“ markiert die charakteristischen inneren Spannungen mit all ihren Folgen für die gesellschaftlichen Verhältnisse und führt zugleich in den ersten Komplex dieses Sammelbandes ein. Unter der Überschrift „Zivilgesellschaftliche Konzepte vom Dissens in den spätsozialistischen Systemen bis zu neueren Auseinandersetzungen im östlichen Europa“ werden konkrete Beispiele vorgetragen, in denen sowohl über die Dissidentenbewegungen als auch von den Herausforderungen in der Nachwendezeit berichtet wird. So stellt Peter Zajac in seinem Beitrag „Milan Šimečka und sein Demokratiekonzept“ einen führenden Denker des Dissens vor, der im Laufe vieler Jahre die innere Verfasstheit der tschechoslowakischen Gesellschaft in der Ära der sogenannten „Normalisierung“ analysiert hatte.
Umfangreicher Überblick
Der 1990 verstorbene Šimečka hatte die Aussichten für eine Demokratisierung in seinem Lande skeptisch eingeschätzt. Zunehmend bezweifelte er, dass diese „Gesellschaft mit einem komplett devastierten Bewusstsein und Gewissen überhaupt in der Lage sein würde, diesen Wandel erfolgreich zu verwirklichen“.
Übernommene Verhaltensmuster aus den deformierten Jahrzehnten diktatorischer Verhältnisse im Lande stehen somit in einer Wechselbeziehung zu verschütteten kulturellen Traditionen. Der Historiker Vilém Prečan charakterisiert unter dem Titel „Die Wiederentstehung der Bürgergesellschaft“ den Umbruchswinter 1989/1990 in der ČSSR als „demokratische Revolution“, da eine unmissverständliche Zuwendung zu Werten wie Demokratie, Freiheit sowie „geistiger, politischer und wirtschaftlicher Pluralität“ vorgelegen hatte. Michail Gorbatschows Strategie einer Reform des realen Sozialismus ermöglichte der tschechoslowakischen Bürgerbewegung unter ihrer Symbolfigur Václav Havel, künftig ohne sozialistische Elemente auszukommen. Hier deutet sich die perspektivische Weiterführung einer Zivilgesellschaft über das Ende des realen Sozialismus hinaus an. Eine Zivilgesellschaft ist nicht denkbar als ein statischer Zustand, der irgendwann im Laufe der Geschichte eines Landes erreicht worden ist. Sie stellt vielmehr eine ständige Aufgabe dar, die es unablässig mit Leben zu erfüllen gilt.
Der zweite von drei großen Komplexen dieses Bandes widmet sich unter der Akzentuierung „Menschenrechte und Konzepte der Bürgergesellschaft: Historische Wurzeln in den böhmischen Ländern seit dem 19. Jahrhundert“ einem umfangreichen geschichtlichen Rückblick.
Ein besonderes Gewicht erhält der vorliegende Band durch seinen dritten Bestandteil in Form einer umfangreichen Quellensammlung. In zumeist erstmaliger Übersetzung ins Deutsche werden verschiedene Zeugnisse und Wortmeldungen tschechischer Publizisten und Schriftsteller vorgestellt, die sich über ein Jahrhundert hinweg zu dem zivilisatorischen Komplex „Bürger“, „Bürgergesellschaft“ und „Menschenrechte“ zu Wort gemeldet haben.
Beiträge von beispielsweise Karel Havlíček Borovský, Karel Čapek, Ferdinand Peroutka und Jan Patočka bis hin zu Ludvík Vaculík und Václav Havel belegen ein historisch gewachsenes Selbstverständnis, das sich als unvereinbar mit etatistischen Staatsentwürfen erweist. Nur auf diese Weise lässt sich die Entschlossenheit erklären, mit welcher der Literaturwissenschaftler Václav Černý im Jahr 1980 – in finsterster Zeit also – seine Einschätzung zur Bürgerbewegung Charta 77 bekundet hatte: „Ihre Stärke ist die moralische Kraft und nicht wie auf der anderen Seite Lug und Betrug, Manipulation der Menschen, die Hegemonie des Polizeiapparats“.
Robert Luft/Miloš Havelka/Stefan Zwicker (Hg.): „Zivilgesellschaft und Menschenrechte im östlichen Mitteleuropa“. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2014, 434 Seiten, 69,99 Euro, ISBN 978-3-525-37306-4
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