Eine Therapie der anderen Art
Auch Menschen mit Behinderung haben sexuelle Bedürfnisse. Der Verein „Lust ohne Risiko“ will ihnen helfen, körperliche Liebe zu entdecken – und ein Tabu brechen
29. 6. 2016 - Text: Katharina WiegmannText: Katharina Wiegmann; Fotos: Fox und Rozkoš bez rizika
Eine Familie gründen, in einer Partnerschaft leben, über seine Sexualität frei bestimmen. Dinge, die Menschen mit Behinderungen oft schwerer als anderen fallen. Manchen mangelt es an Privatsphäre in Heimen, andere wissen nicht, wie sie mit ihren Bedürfnissen umgehen sollen, und in vielen Fällen fehlt eine Person außerhalb der Familie, die Zärtlichkeit geben kann.
Lucie Šídová vom Verein „Rozkoš bez rizika“ („Lust ohne Risiko“) glaubt daran, dass Sex ein Menschenrecht ist und Behinderten genauso zusteht, wie allen anderen auch. Der von ihr geleitete Verein hat vor kurzem fünf Frauen zu Assistentinnen ausgebildet, die körperlich und geistig beeinträchtigten Menschen dabei helfen, ihre Sexualität auszuleben. Anstöße dafür kamen auch aus Deutschland, wo schon seit Mitte der neunziger Jahre über Sexualassistenz diskutiert wird.
80 Stunden Ausbildung
Eine der Pionierinnen auf dem Gebiet war Nina DeVries. Die Therapeutin und Masseurin bildete am „Institut zur Selbst-Bestimmung Behinderter“ im niedersächsischen Trebel Sexualassistenten aus und wurde im deutschsprachigen Raum zu einer Art öffentlichen Aufklärerin, die an Hochschulen und in den Medien die Sexualität von Behinderten zum Thema machte. In Prag leitete sie einen der Workshops für die Frauen, die „Rozkoš bez rizika“ zu Sexualassistentinnen ausgebildet hat. „Insgesamt umfasste die Ausbildung in Theorie und Praxis rund 80 Stunden. Wir haben mit ihnen auch Organisationen besucht, die mit Behinderten arbeiten, damit sie diese Leute kennenlernen und mit ihnen reden konnten.“ Die Arbeit mit Körpern war für die Gruppe angehender Assistentinnen allerdings nichts Neues. „Rozkoš bez rizika“ unterstützt in seinen anderen Programmen Sexarbeiterinnen und hat die Frauen auch aus diesem Umfeld rekrutiert. Šídová und ihre Kolleginnen hatten dafür über das Kursangebot informiert und sich bei den Sozialarbeitern nach geeigneten Kandidatinnen umgehört.
Diana Lovecká interssierte sich sofort für die Fortbildung. Die 37-Jährige war zuvor schon persönliche Assistentin, auch von Behinderten, was sich mit der Zeit ohnehin zu einer sexuellen Hilfe für ihre Klienten entwickelt habe, wie sie sagt.
Klienten, Assistenten, Fortbildungen – die sachlichen Begriffe klingen nach einem seriösen Beruf und lenken zunächst davon ab, worum es hier nicht zuletzt geht: Sex gegen Geld. Aber eben nicht nur. „Mein Angebot reicht von erzieherischen und therapeutischen Maßnahmen zur Hilfe bei Masturbation über Unterstützung beim Sex für Paare bis zur aktiven sexuellen Assistenz mit meinem eigenen Körper“, erklärt Lovecká.
Die Abgrenzung von der klassischen Prostitution ist sowohl Lovecká als auch Šídová wichtig. „Sexualassistentinnen arbeiten nicht nur mit den Behinderten, sondern auch mit deren Eltern und Betreuern. Sie wollen außerdem, dass die Kunden von ihnen unabhängig bleiben und ihre eigene Sexualität entdecken. Prostituierte dagegen wollen, dass die Männer wiederkommen. Sexarbeiterin kann im Prinzip jede werden, Sexualassistentin nicht“, sagt Vereinspräsidentin Šídová.
So sieht das auch Lovecká. Bei ihr und ihren Kolleginnen müssten behinderte Menschen keine Ablehnung befürchten, oder dass sie falsch angefasst würden. Auch Diebstahl und Missbrauch könnten im Umgang mit Prostituierten ein Risiko für körperlich oder geistig Behinderte darstellen. „Meine Kunden haben Angst, sich gegenüber Fremden zu öffnen, weil sie sich selber nicht schützen können“, erzählt Lovecká. Sie begreift ihre Arbeit als eine Form von Therapie, bei der die finanzielle Motivation nicht im Vordergrund steht. Viele Sexualassistentinnen seien als solche nur nebenberuflich tätig. Kostenlos ist die Hilfe aber nicht. Bei „Rozkoš bez rizika“ bezahlen die Kunden 1.200 Kronen (rund 40 Euro) für ein Treffen; eine obligatorische vorbereitende Sitzung kostet 500 Kronen. Hier werden zunächst die gegenseitigen Erwartungen und Grenzen abgesteckt. Dass dies auf Augenhöhe geschieht, ist für beide Seiten wichtig. Die Klienten sollen selber entscheiden und kommunizieren, was sie sich wünschen, egal ob es nur eine Berührung oder mehr ist.
Genau deshalb möchte die niederländisch-deutsche Pionierin des Berufs Nina DeVries nicht von Therapie sprechen. „Sexualassistenz ist eine Dienstleistung, die mit Bewusstheit ausgeführt wird. Es ist keine Therapie, denn wenn ich das behaupte, dann gehe ich über den Klienten hinweg“, sagte sie in einem Interview mit der „taz“.
Während in Deutschland seit zwanzig Jahren über das Thema diskutiert wird, steckt die Debatte in Tschechien noch in ihren Anfängen. Die Frauen von „Rozkoš bez rizika“ waren 2015 die Ersten, die hierzulande eine Konferenz zu Sexualassistenz organisierten, sie übersetzen Fachliteratur ins Tschechische, bringen das Thema in die Medien. Im persönlichen Gespräch fällt auf, dass sie in diesem Zusammenhang keine Grundsatzdiskussion über käuflichen Sex lostreten wollen. „Wir sehen Sexarbeit als Arbeit und haben kein Problem damit, wenn sich jemand dafür entscheidet.“
Rechtliche Grauzone
Das Bedürfnis nach Nähe haben auch Frauen – warum gibt es also bislang nur Assistentinnen? Das Team von „Rozkoš bez rizika“ schließt nicht aus, dass sie in Zukunft auch Männer für die Arbeit mit körperlich und geistig beeinträchtigten Menschen ausbilden. Für den ersten Anlauf sei es einfacher gewesen, Frauen zu finden, weil sie mit diesen ohnehin zusammenarbeiten, so Šídová. Einer der Workshops wurde allerdings von Erich Hassler mitorganisiert, der mit der Initiative „InSeBe“ Sexualbegleitung in der Schweiz anbietet.
Die gesetzliche Grundlage für Sexualassistenz ist in Tschechien nicht ganz eindeutig. „Prostitution wird nicht als Straftat verfolgt, ist aber auch nicht legal“, erklärt Šídová. Einige Frauen seien beispielsweise als Masseurinnen selbständig und würden ihre Sexarbeit dahinter verbergen. Das Innenministerium hat sich bereits mit dem Projekt beschäftigt und kam zu dem Schluss, dass „Rozkoš bez rizika“ nicht direkt zwischen den Frauen und ihren Kunden vermitteln dürfe. Die Assistentinnen haben ihre eigenen Internetseiten, Interessenten können sie so direkt kontaktieren.
Obwohl sich damit auch „Rozkoš bez rizika“ und die fünf Frauen des Pilotprojekts in einer rechtlichen Grauzone befinden, haben sie schon viele Unterstützer gewonnen. In diesem Jahr gewannen sie den österreichischen „SozialMarie“-Preis, der jährlich neue Ideen für gesellschaftliche Herausforderungen in Europa würdigt.
Wie wird das neue Angebot angenommen? „Die Frauen haben mehrere Kontakte in der Woche“, weiß Šídová. Manchmal seien es auch Eltern, die für ihre erwachsenen Kinder mit Behinderungen anrufen würden oder Enkel, die einen Kontakt für ihre einsamen Großeltern suchten, die sich nach Zärtlichkeit sehnten. Zu einem guten Leben gehört eben mehr als ein gefüllter Magen und eine hygienische Grundversorgung. Diana Lovecká sieht in ihrer Arbeit jedenfalls nichts Verwerfliches: „Ich mache das gerne und sehe es als eine nutzbringende und noble Tätigkeit.“
„Online-Medien sind Pioniere“
Kinderwunsch nicht nur zu Weihnachten