Elbogener Elegie
Mit Zdeněk Kalista nach Elbogen (Loket), wo der spätere Kaiser Karl IV. gefangen war und Goethe zu einem alten Mann wurde
28. 1. 2020 - Text: Jiří Peňás, Übersetzung: Josef Füllenbach, Titelbild: Marcus Dassler / Archiv TVV, CC BY-ND 4.0
Informationen zum Autor und der Serie „Genius loci“
Als der Historiker Zdeněk Kalista 1960 nach acht Jahren Kerkerhaft aufgrund einer Amnestie des Präsidenten aus dem Gefängnis entlassen wurde, konnte er sich in gewissen Grenzen wieder seiner Arbeit zuwenden. So bereitete er unter anderen ein Buch mit historischen Essays vor, Cesta po českých hradech a zámcích (Eine Reise zu böhmischen Burgen und Schlössern), das dann doch erst im Jahre 1993 herauskam, elf Jahre nach dem Tod des Autors. Die meisten seiner Porträts beschreiben Burgen und Schlösser in seiner geliebten Landschaft an der Iser (Jizera) im Nordosten von Böhmen und danach in Südböhmen, aber es gibt auch Abstecher zu anderen Orten, zum Beispiel nach Elbogen (Loket), der „Burg im Grenzland“, wie er das Kapitel über Elbogen überschrieb.
„An einer hufeisenförmigen Windung der Eger, nur durch eine enge Landbrücke mit dem rechten Flussufer verbunden, ragt auf dem Felsen eine alte Burg empor, unter deren Schutz sich ein Städtchen malerischen und altertümlichen Aussehens an die südliche, östliche und teils auch westliche Seite des Felsens schmiegt. Das ist Elbogen.“ In solch einem hohen Stil fährt Kalista fort, so dass es einen schmerzt, ihn hier von dieser Höhe herunterzuholen. Doch trifft es schon zu, dass der Blick auf Elbogen, vor allem aus gebührendem Abstand, zu den schönsten Burgansichten in diesem Lande zählt und dass er zum stilistischen Höhenflug geradezu einlädt.
Burg und Stadt nannten ihre Einwohner über mehrere Jahrhunderte mit ihrem deutschen Namen Elbogen. Sie sind ein Kristall, der in eine eher traurige Landschaft eingebettet ist, die sich hinter Karlsbad in das ausgeplünderte Braunkohlenrevier von Falkenau (Sokolov) ausbreitet, der jedoch hier auf einmal liegen geblieben scheint, gleichsam ein Banner der Erhabenheit oder ein vergessener Herold von besseren Zeiten.
Kalista muss in den 1960er Jahren persönlich dorthin gekommen sein, denn sein Elbogen-Kapitel beginnt mit der Beschreibung der Landstraße von Karlsbad nach Falkenau, die früher in Serpentinen steil nach unten ins Städtchen herabführte. Bevor die Umgehungsstraße gebaut wurde, musste man durch Elbogen fahren; durch ein enges Tor musste man in das Städtchen hinein, durch das sich der Bus – damals eines dieser runden Ungetüme – gerade noch hindurchzwängen konnte, dann hielt er auf dem mit holprigen Steinen gepflasterten Marktplatz und danach gelangte er durch den Flaschenhals wieder knapp hinaus.
Ich bin vor Zeiten als kleines Kind in der Gegend aufgewachsen, allerdings ein Stück weiter in den Bergen, und hatte von Elbogen stets das Gefühl, dass sich hier etwas Sonderbares zugetragen haben muss. So konnte ich mir etwa vorstellen, dass ich vor langer Zeit hier gewesen bin, weil man als Kind von allem irgendwie stärkere Eindrücke empfängt, die erst später verblassen. Und es ist nicht ausgeschlossen, dass ich, vielleicht von meinem gebildeten Großvater, davon gehört hatte, wie sie hier auf der Burg den kleinen Karl IV. gefangen hielten, der freilich damals weder Karl hieß noch bereits der Vierte war, sondern der Königssohn Wenzel, und dass das arme Kerlchen dort ohne seine Mama Eliška lebte, die schrecklich zerstritten war mit ihrem Gatten Johann von Luxemburg, der ein Lackaffe war und der gegenüber der stolzen Přemyslidin, einer um vier Jahre älteren Schönheit mit einem Hang zur Streitsucht, wahrscheinlich von Minderwertigkeitskomplexen geplagt war.
Zdeněk Kalista schreibt, dass „Elbogen die erste Lebenserfahrung des kleinen dreijährigen Wenzel-Karl bedeutete, eine harte und lieblose“. Diese Erfahrung wiederholte sich noch einige Male. Außer auf Elbogen wurde Wenzel auf der Burg Pürglitz (Křivoklát) festgehalten und vor seiner Mutter bewacht. Wenn sich später der Kaiser als reifer Mann daran erinnerte, konnte er sich nie der Schmerzen und vielleicht auch des Selbstmitleids erwehren, das sich in einigen seiner Charakterzüge widerspiegelte. Er hatte eine sehr unterkühlte Beziehung zum Vater, und umgekehrt verband ihn eine pietätvolle Sohnesliebe mit seiner Mutter, die er kaum gekannt hatte, von der er aber annahm, dass die Trennung für sie schmerzvoll war.
Dennoch hat es den Anschein, dass er als Karl schon nicht mehr mit Groll auf Elbogen zurückblickte; er besuchte es oft, immerhin gründete er ganz in der Nähe sein Karlsbad, und auf Elbogen legte er bei seinen Reisen ins Reich stets einen Halt ein. Die Burg war für ihn „Stützpunkt und Rastplatz auf den Reisen in den Westen“, wie Kalista schreibt. Elbogen lässt sich demnach begreifen als Ausgangspunkt und Voraussetzung für Karlsbad; beider Nähe fand stets irgendwie ihren Ausdruck – heute darin, dass man in Karlsbad am häufigsten russisch hört und in Elbogen, gleich unter der Burg, gibt es eine „altslawische Kneipe“, wo Pelmeni und Borschtsch auf der Karte stehen, und unmittelbar daneben finden sich Geschäfte mit Sachen, die nur den Russen gefallen können.
In dem Essay von Kalista laufen dann die weiteren Jahrhunderte auf der Burg Elbogen vorüber. Kurz gefasst kann man sagen, dass Johann von Luxemburg die Burg verpfändet hat, dass sie dann den Herren von Ilburg gehörte, die aus der benachbarten Markgrafschaft Meißen stammten, und 1437, noch unter der Herrschaft von König Sigismund, gelangte sie an die Grafen Schlick. Damit schwang sich dieses ursprüngliche Patriziergeschlecht aus Eger in die böhmische Geschichte hinein, wo es tiefe Spuren hinterließ, die 1621 mit Joachim Andreas von Schlick auf dem Altstädter Richtblock ihren Gipfel erreichten.
Burg Elbogen | © JFü
„Der alten Burg“, schließt Kalista sein Elbogen-Kapitel, „fehlte es offenbar schon an der Kraft, sich zu irgendeiner bedeutenderen epischen Geschichte aufzuraffen. […] Die Burg selbst wurde als Wohngebäude erhalten und 1792 richtete man auf ihr ein Gefängnis ein – diesmal jedoch nicht für vornehme Gefangene wie einst, sondern als gewöhnliche Strafanstalt, die zeitweilig jegliche Würde der altertümlichen Architektur verschwinden ließ.“
Wirklich? Hat sich hier wirklich keine bedeutendere epische Geschichte mehr zugetragen? Eigenartig, dass Kalista nicht wenigstens mit einem Satz Goethe und dessen lyrische Begebenheit von Elbogen erwähnt.
Johann Wolfgang von Goethe war erstmals 1807 in Elbogen; danach kehrte noch sechsmal hierher zurück, fast jedes Mal, wenn er in Karlsbad war. Zuletzt kam er nach Elbogen, um unauffällig seinen 74. Geburtstag zu feiern. Es war am 28. August 1823 nach dem Frühstück im Karlsbader Hotel Zum Goldenen Strauß, wo er sich vor ein paar Tagen einquartiert hatte, als er zusammen mit Frau von Levetzow und ihren drei Töchtern in einer Kalesche Platz nahm, und bereits gegen neun Uhr morgens trafen sie in Elbogen ein. Die kleine Gesellschaft spazierte an der Flussschleife entlang, dann stiegen sie hinauf zur Stadt und zur Burg, und danach ließen sie sich auf der Terrasse des Hotels Weißes Ross mit Blick auf die Eger nieder.
Goethe ist jedoch zu diesem Zeitpunkt eher unglücklich. Nach allem, was wir wissen, hatte er sich verliebt und litt. Natürlich nicht wegen Frau von Levetzow, die er schon als Zwanzigjährige kannte, aber wegen einer ihrer drei Töchter, der damals 19-jährigen Ulrike. Diese ganze Geschichte ist eigentlich recht simpel und schon vielmals beschrieben, nahezu jeder weiß etwas darüber, gelegentlich kann man lesen, Ulrike sei Goethes letzte Geliebte gewesen, was selbstverständlich Unsinn ist [dazu der Artikel: Goethes letzte Liebe]. Die letzte Liebe war sie aber ganz gewiss, freilich eine platonische und einseitige: Das junge Ding hatte wahrscheinlich keine Ahnung, wie sie der offensichtlichen Zuneigung dieses alten Mannes begegnen sollte. Sein Ruhm verbreitete sich zwar über ganz Europa, doch was hat sie damit zu schaffen?
Bislang hatte sie der Dichterruhm nicht berührt und hatte sie ihn auf keine Weise erlebt; sie hatte nichts von Goethe gelesen und sich nicht für sein Werk interessiert bis zu dem Tag, als er ihr einen Abdruck von Wilhelm Meisters Wanderjahren schenkte. Johannes Urzidil schildert in seinem einzigartigen Buch Goethe in Böhmen, dass sie weder musisch noch romantisch veranlagt war, ihre Anziehung wurzelte eigentlich allein in ihrer Jugendlichkeit, deren erfrischende Kraft keineswegs geheimnisvoll ist, sondern durch und durch real.
Doch Goethe verfiel ihr. Die letzten zwei Jahre war er von ihr bezaubert und fasziniert, als ob er auf seine alten Tage völlig den Kopf verloren hätte. Goethe macht ihr den Hof, unterweist sie, gibt ihr Lektionen aus der Botanik, Mineralogie, Bäderheilkunde. Kauft ihr kleine Geschenke, Erfrischungen, Blumen. Begleitet sie bei Spaziergängen auf den Promenaden in Marienbad und Karlsbad, und bei Regen beteiligt er sich im Salon an gesellschaftlichen Unterhaltungen und Spielen, wobei er sich bemüht, jung und geschmeidig zu wirken. Das Ganze freilich an der Grenze zum Lächerlichen.
Er beginnt darüber nachzudenken, um Ulrikes Hand anzuhalten. Der Olympier besucht seinen Arzt, mit dem er die Angelegenheit bespricht. Der Arzt beruhigt ihn, doch möglicherweise musste er über den Klassiker heimlich lachen. Ebenso sein Freund, Mäzen und Schutzherr Karl August, Großherzog von Sachsen-Weimar-Eisenach. Der soll ihn direkt ausgelacht haben: „Opa, in Deinem Alter immer noch Mädchen?!“ Doch Goethe meint es ernst. Er bittet ihn, er möge die Situation erkunden. Karl August meldet sich bei Frau von Levetzow an und unterrichtet sie über des Dichters Absichten. Ulrikes Mutter hält das Ganze zunächst für einen Scherz, dann beginnt sie mit vernünftigen Ausflüchten, dass dies bei Goethes Kindern sicherlich auf Widerstand stoßen werde und dass sie vor allem die Tochter fragen muss, die noch ein Kind sei – nicht mehr so richtig, denn sie selbst war ja in deren Alter schon verheiratet.
Ulrike, die als alte Jungfer im Jahre 1899 (mit 95 Jahren!) im nordböhmischen Trieblitz (Třebívlice) starb, äußerte sich erst gegen Ende ihres Lebens zu der Angelegenheit: Sie räumte ein, vielleicht eine gewisse Zuneigung zu Goethe empfunden zu haben, aber lediglich „wie zu einem Vater“. Sie bestand darauf, dass er sie außer zum Abschied nie geküsst habe. Sie hätte ihn möglicherweise sogar geheiratet, so gestand sie, falls sie ihm auf diese Weise hätte „nützlich“ sein können. Doch habe er weder mit ihr noch auch mit ihrer Mutter persönlich gesprochen. Er hat nachher einfach seine Sachen gepackt und ist abgefahren. Später haben sie sich nie wiedergesehen. Und Goethe reiste nicht mehr nach Böhmen. Zwar blieb Goethe nach dem Ausflug nach Elbogen noch einige Tage im geschäftigen Karlsbad und er traf sich gelegentlich weiter mit der „Familie“, doch der Ort, wo er von ihnen wirklich Abschied nahm, war Elbogen.
Elbogen in alten Ansichten | © APZ
Der Artikel ist im Original unter dem Titel „Loketské Elegie aneb Kde na Goetha přišlo stáří. Se Zdeňkem Kalistou na hrad, v němž byl vězněn malý Václav“ in der Ausgabe 3 vom 17. Januar 2019 der Wochenzeitschrift „Echo“ erschienen.
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