Entführung aus Liebe
Vor genau 1.000 Jahren raubte der Herzog von Böhmen eine fränkische Adelige …
2. 7. 2021 - Text: Klaus Hanisch, Titelbild: Gedenkstein mit dem Schuh der entführten Markgrafentochter Judith in Schweinfurt (© Tilman2007, CC BY-SA 3.0)
Viele Jahre lang führte Friederike Kotouc ihre Gäste auf eine Anhöhe über das fränkische Schweinfurt. Dort präsentierte sie ihnen ein Zeugnis aus Stein: einen Schuh, den die fränkische Prinzessin Judith verlor, als sie vom böhmischen Herzog Bretislaus/Břetislav I. aus einem Kloster entführt wurde. Diese Tat geschah angeblich am 7. Juli 1021, also vor genau 1.000 Jahren. „Meine Gäste fanden diese Geschichte immer sehr spannend“, blickt Friederike Kotouc zurück, deren Großvater aus der Tschechoslowakei stammte.
In „Alt-Schweinfurt“, einer viel gelesenen Chronik von Hubert Gutermann, wird der Tathergang präzise geschildert. „Dem Wolf gleich“ sei der Böhme damals um das Kloster „wie um eine Herde harmloser Lämmer“ geschlichen sein, bevor er seine Angebetete über die Landesgrenze bringen konnte. Seine Chance kam, als Judith am Vorabend eines Feiertags ihre Klosterzelle verließ, um zur Vesper zu läuten. Dazu überquerte sie den Vorhof des Klosters – und Břetislav schlug zu.
Er griff sich die ahnungslose Prinzessin, schwang sich mit ihr auf sein Pferd und galoppierte davon. Davor durchtrennte er mit seinem Schwert noch kraftvoll ein Seil, das die Pforte des Klosters sicherte. Zurück blieben verschreckte Nonnen, die „wie verscheuchte Hühner“ in alle Ecken des Klosters flüchteten und um Hilfe riefen. Alsbald ritten Verfolger hinterher, doch der Böhme war zu flink. Deshalb rächte man sich an zurückgebliebenen Knechten des Herzogs, denen laut Chronik „Nasen und Ohren abgeschnitten“ wurden – obwohl sie vom Plan ihres Herrn zuvor nichts wussten.
Der Gedenkstein hoch über Schweinfurt, den Friederike Kotouc ihren Gästen noch Jahrhunderte später präsentierte, erinnert bis heute an diese Entführung. Im Original soll der Schuh, der während der Entführung im Klosterhof zurückblieb, rot gewesen sein. Dies berichteten der Cosmas von Prag und andere Chronisten. Das Bekleidungsstück wurde dem römisch-deutschen Kaiser Heinrich II. mit der Nachricht von der Entführung geschickt. Doch der Bote verlor ihn unterwegs. In der damaligen Zeit wertete man das „als Gottesurteil“, weshalb die Ehe „Gott gefällig“ erschien.
Judith war eine Tochter des seit dem Jahr 980 amtierenden Schweinfurter Markgrafen Heinrich. Die Abstammung dieses mächtigen Geschlechts führte der Schweinfurter Stadtarchivar Dr. Erich Saffert in weiblicher Linie gar bis auf Karl den Großen zurück. Ihre Mutter schickte Judith ins Benediktiner-Kloster nahe der Burg des Markgrafen. Trotzdem erfuhr Herzog Břetislav im fernen Böhmen von der Fränkin. Cosmas notierte: „Ein sehr mächtiger Herr in deutschen Landen von königlichem Geblüt hatte eine Tochter, welche von einer solchen Schönheit gewesen, daß ihresgleichen damals unter der Sonne nicht zu finden war.“
Mächtig in deutschen Landen war Judiths Vater Heinrich (oft auch Hezilo genannt) deshalb, weil die Schweinfurter Markgrafen im hohen Mittelalter ein Gebiet vom Main bis an die Donau und zum Böhmerwald regierten. Und es hätte noch größer werden können, weil Heinrich im Jahr 1002 den bayerischen Herzog Heinrich IV. bei dessen Königswahl unterstützte. Dafür versprach Heinrich IV. (der spätere Kaiser Heinrich II.) dem Schweinfurter Heinrich sein Herzogtum Bayern, das sich damals von der Oberpfalz bis an die Adria ausdehnte und fast schon selbst ein Königreich war.
Dementsprechend war ein Herzog von Bayern der wichtigste Mann im Reich nach dem König. Und deshalb dachte Heinrich IV., kaum dass er König war, nicht mehr an sein Versprechen, wie Anna Schiener in ihrer „Kleinen Geschichte Frankens“ erläutert. Wäre zu dem „gewaltigen Schweinfurter Einflussbereich auch noch Bayern hinzugekommen, hätte sich Heinrich einen übermächtigen Rivalen ins Nest gesetzt“, so Schiener.
Ganz andere Voraussetzungen erfüllte Břetislav, der Böhme. Er wurde als unehelicher Sohn des Herzogs Oldřich und einer Bauerntochter namens Božena geboren. Da dem Regenten ein legitimer männlicher Nachfolger fehlte, sollte Břetislav das Amt erhalten. Dafür brauchte er jedoch eine Braut aus einer herrschaftlichen und hochgeachteten Familie – eben die Babenbergerin Judith aus dem Nonnenkloster in Schweinfurt.
Einfach um ihre Hand anzuhalten, hielt Břetislav für sinnlos. „Mit keinem Wort“ erwähne Chronist Cosmas von Prag „eine hohe Abstammung“, wie der Schweinfurter Autor und Heimatforscher Dr. Erich Meidel erläuterte. Vielmehr hätten die Deutschen auf die Slawen herabgesehen, so Cosmas. Deshalb und wegen der großen Unterschiede in der Herkunft fürchtete Břetislav, von Markgraf Heinrich abgewiesen zu werden, wenn er offiziell um Judiths Hand anhielt. Dann gleich lieber eine Entführung.
Doch Geschichte klingt manchmal einfach zu schön, um wahr zu sein. Vor allem wenn sie sich im Mittelalter abspielte, das heute gerne als „finstere“ Epoche bezeichnet wird. Tatsächlich hat diese Geschichte von Judith und Břetislav einen Haken: „Die Erzählung vom Raub der Markgrafentochter ist eine Sage“, vermerkt die „Alt-Schweinfurt“-Chronik. „Meine Gäste haben sie sich trotzdem immer gerne angehört“, sagt Friederike Kotouc, die mehr als drei Jahrzehnte lang und bis 2018 als Museumspädagogin und Gästeführerin für die Stadt Schweinfurt arbeitete.
Wahr ist allerdings, dass Judith den Herzog von Böhmen – wie auch immer – kennenlernte und heiratete. Sie wurde, auf Tschechisch, zu Jitka ze Svinibrodu. Die Hochzeit soll 1029 erfolgt sein, beide ließen sich in Olmütz (Olomouc) nieder. Břetislav wurde zu einem der wichtigsten Herrscher aus dem Geschlecht der Přemysliden, den Regenten von Böhmen im hohen Mittelalter. Er machte Mähren zu einem Teil der Böhmischen Länder, eroberte Krakau und Posen, stärkte das Christentum und strebte ein Erzbistum Prag an, erließ Gesetze und legte Strafen fest, etwa für Mord. 1041 musste er sich jedoch dem römisch-deutschen Kaiser Heinrich III. unterwerfen, dominierte allerdings weiterhin in Böhmen und Mähren, nun als Lehen.
Břetislav I. starb im Januar 1055. Aus der Ehe gingen fünf Söhne hervor. Judith wurde nach dem Tod ihres Mannes von ihrem Sohn Spytihněv aus dem Land vertrieben. Wie Erich Meidel erläutert, sei Spytihněv II. „von großem Hass auf die Deutschen erfüllt“ gewesen, weil er ihnen nie die „Schmach der zweimaligen Geiselhaft“ vergaß. Judith flüchtete nach Ungarn.
Einer weiteren Legende zufolge soll sie dort Peter Orseolo, König von Ungarn, geheiratet haben. Nur in ihrer neuen tschechischen Heimat hält man laut Meidel an dieser Überlieferung fest. Wahrscheinlicher sei, dass sich Judith in ein Schloss im Fürstentum Znaim (Znojmo) zurückzog, das von ihrem „Lieblingssohn Konrad“ regiert wurde. Dort sei sie nach ihrem Tod im August 1058 zunächst beerdigt worden. Nachdem ihr Sohn Vratislav im Jahr 1085 zum ersten König von Böhmen gekrönt worden war, ließ er Judith in den Prager Veitsdom überführen. Ihr Grab befindet sich nun in einer Kapelle neben ihrem Mann Břetislav.
Nicht nur der erste böhmische Chronist Cosmas, der im frühen 12. Jahrhundert eine Geschichte Böhmens verfasste, begeisterte sich für Leben und Wirken des (allzu) romantischen Regenten Břetislav. So schrieb der böhmische Schriftsteller Jan Campanus Vodňanský im 17. Jahrhundert das Schauspiel „Břetislav a Jitka“, das von der Zensur verboten wurde, weil es Landes- und Familienpolitik behandelte. Ende des 18. Jahrhundert diente das Liebespaar angeblich als Vorlage für das erste tschechische historische Theaterstück. Auch Bedřich Smetana widmete Břetislav in seiner Oper „Libuše“ eine Passage.
Und in Schweinfurt werden Gäste auch weiterhin bei Führungen über die (Liebes-)Geschichte und Entführung der Markgräfin Judith von der Peterstirn durch Herzog Břetislav informiert. Neben dem steinernen Schuh erinnert hier noch ein anderes Relikt an Judith. Das Stadtmuseum beherbergt Knochen, die in der Altstadt gefunden wurden. Sie sollen im Mittelalter für Brettspiele gedient haben. Friederike Kotouc hält für sehr wahrscheinlich, dass auch Judith diese Spiele zum Zeitvertreib nutzte.
„Wie 1938“
30 Jahre PZ