Entschwundene Welt
Der Bildband „Zmizelý svět Podkarpatské Rusi” zeigt Aufnahmen des Amateurfotografen Rudolf Hůlka über das Leben in der Karpatenukraine zu Zeiten der Ersten Republik
2. 4. 2015 - Text: Peter HuchText: Peter Huch; Foto: Rudolf Hůlka
Ab 1920 erstreckte sich die Erste Tschechoslowakische Republik von Prag aus rund 1.000 Kilometer in Richtung Osten, fast bis zur damaligen Grenze zur Sowjetunion. Der neue Staat war im Kleinen das, was bereits die Habsburger Monarchie ausgemacht hatte: ein Vielvölkerstaat. Und dazu gehörte seit dem Friedensvertrag von Trianon auch die Karpatenukraine mit ihrer überwiegend ruthenischen Bevölkerung. Die Tschechen stellten nur knapp die Hälfte der Einwohner der jungen Republik. Der Rest setzte sich aus Slowaken, Ukrainern, Deutschen, chassidischen Juden, Roma und kleineren Bevölkerungsgruppen wie den Huzulen oder eben den Ruthenen zusammen.
Gerade in der Karpatenukraine bestand ein vielfältiges ethnisches Gemisch, das jenes in Böhmen und Mähren oder der Slowakei noch übertraf. Archaisch anmutende Volkstümlichkeit und Landwirtschaft beherrschten das Bild der östlichsten Region des Landes. Während Prags Elite in die weite Welt hinaus schielte und Inspirationen in Paris und New York suchte, Jazz hörte und sich mit dem Futurismus beschäftigte, lebte man im Osten des Landes in der Tradition der eigenen Ahnen. Nur jeder Zehnte arbeitete in dieser Welt, in der die Zeit still stand, in der Industrie. Die meisten Einwohner waren entweder Bauern oder Schäfer, Flößer und andere Handwerker.
Die Tschechen begannen schnell, Lehrer und Staatsbedienstete in den Osten zu schicken, um das zivilisatorische Gefälle auszugleichen. Einer von Tausenden Tschechen, die es damals in die Karpaten zog, war Rudolf Hůlka (1887–1961). Auch er erlag dem rustikalen Charme der vormodernen Bergwelt. Er wurde vom Landwirtschaftsministerium gesandt, um beim Aufbau einer zeitgemäßen Infrastruktur mitzuhelfen. Seine anfänglich vorwiegend touristische Neugierde verwandelte sich in flammendes Interesse für die lokale Bevölkerung. Er begann die dortige Lebenswelt auf Zelluloid festzuhalten. Die Motive seiner ethnografisch wertvollen Fotografien umfassten nicht nur Porträts von Bewohnern in ihren Trachten, beim Handwerken oder Ausüben ihrer Bräuche, sondern auch Architektur, Landschaften sowie die Tierwelt. Die tschechische Nationalbibliothek veröffentlichte im Herbst vergangenen Jahres einen umfassenden Bildband mit über 170 Aufnahmen Hůlkas und einem historischen Abriss von Hana Opleštilová und Lukáš Babka.
„Zmizelý svět Podkarpatské Rusi“ („Die verschwundene Welt der Ruthenen in den Subkarpaten“) erzählt unter anderem vom europaweit einsetzenden Tourismus-Boom in den zwanziger Jahren. In der Tschechoslowakei suchten Mitglieder zahlreicher Wanderklubs den Weg in die „Exotik im eigenen Land“. Die Karpatenukraine wurde Stück für Stück tschechisiert. Auch viele Intellektuelle und Künstler erlagen dem Charme der rustikalen Gegend. Darunter Schriftsteller wie Jaroslav Durych, Ivan Olbracht oder Karel Čapek, der mit seinem Roman „Hordubal” eine archaische Hommage an die Karpatenukraine schuf.
Die meisten der im Bildband veröffentlichten Aufnahmen bilden Menschen in der Ortschaft Jassinja nahe der heutigen ukrainischen Grenze zu Rumänien und Ungarn ab. Zu sehen sind von einem harten Leben gezeichnete Gesichter, Bauern und Arbeiter bei Feiern, beim Holzfällen oder Flößen. Es gibt auch viele Momente der friedlichen Eintracht, wenn zum Beispiel Huzulen auf einer Straßenkreuzung lachend und scherzend in ein Gespräch mit orthodoxen Juden in ihren schwarzen Kaftanen und Hüten vertieft sind. Man könnte zuweilen der Interpretation verfallen, es handele sich um ein kleines, abgeschiedenes Utopia. Zahlreiche Bilder sind von Hůlka selbst nachkoloriert und lassen die farbenfrohen Trachten erfahrbar machen.
Doch Rudolf Hůlka legte keinen Wert auf Nostalgie oder eine romantische Verklärung der Lebenswelt. Er fing auch die vielerorts vorherrschende Armut ein. Es war jene Zeit, in der noch die sogenannten „Luftjuden“ in diesem Gebiet lebten – jene Personen am Rande der Gesellschaft, die nur von der „Luft“ lebten und die unter anderem der expressionistische Maler Marc Chagall in seinen Werken verewigte. Hůlka huldigte auch den landschaftlichen Schönheiten der Karpaten. So strahlen seine Dokumente wilder Bergkämme und märchenhafter Wälder auch hundert Jahre später noch eine mystische Kraft aus.
Abgerundet wird der Band von einer kleinen Biographie über Rudolf Hůlka und einem Vorwort des Slawisten Edward Kasinec. Hůlkas Werk steht dem des anderen großen ethnografischen Fotografen jener Zeit Roman Vishniac in nichts nach. Er legt ein beeindruckendes Zeugnis einer nicht mehr existierenden Welt ab, in die man auf über 200 Seiten eintauchen kann.
Zmizelý svět Podkarpatské Rusi (ve fotografiích Rudolfa Hůlký). Hana Opleštilová, Lukáš Babka (Hrsg.), Národní knihovna České republiky, Prag 2014, 420 CZK, ISBN 978-80-7050-630-1
„Markus von Liberec“
Geheimes oder Geheimnistuerei?