„Er war eine ungewöhnliche und tiefe Welt“
Milena Jesenskás Nachruf auf Franz Kafka
28. 5. 2014 - Text: PZ
Vorgestern starb im Sanatorium Kierling bei Klosterneuburg bei Wien Dr. Franz Kafka, ein deutscher Schriftsteller, der in Prag lebte. Nur wenige Menschen kannten ihn hier, denn er war ein Einzelgänger, ein wissender, von der Welt erschreckter Mensch; schon jahrelang litt er an einer Lungenkrankheit, und wenn er sie auch heilte, so nährte er sie doch bewußt und förderte sie in Gedanken. Wenn Seele und Herz die Last nicht mehr ertragen, nimmt die Lunge die Hälfte auf sich, damit die Last wenigstens etwas gleichmäßig verteilt sei, schrieb er einmal in einem Brief, und so war auch seine Krankheit. Sie verlieh ihm eine fast unglaubliche Zartheit und eine fast grausig kompromißlose intellektuelle Verfeinerung; aber er, der Mensch, hatte seine ganze intellektuelle Lebensangst auf die Schultern seiner Krankheit geladen.
Er war scheu, ängstlich, sanft und gut, doch die Bücher, die er schrieb, sind grausam und schmerzhaft. Er war zu hellsichtig, zu weise, um leben zu können, zu schwach, um zu kämpfen, schwach wie es edle, schöne Menschen sind, die sich nicht darauf verstehen, den Kampf mit ihrer Angst vor Unverständnis, Ungüte, intellektueller Lüge aufzunehmen, da sie im voraus um ihre Hilflosigkeit wissen und im Unterliegen den Sieger beschämen. Er kannte die Menschen, wie sie nur ein Mensch von großer, nervöser Sensibilität kennen kann, einer, der einsam ist und fast prophetisch den andern an einem einzigen Aufblitzen der Augen erkennt. Er kannte die Welt auf ungewöhnliche und tiefe Art, selbst war er eine ungewöhnliche und tiefe Welt.
Er schrieb die bedeutendsten Bücher der jungen deutschen Literatur; das Ringen der heutigen Generation der ganzen Welt ist in ihnen, wenn auch ohne tendenziöse Worte. Sie sind wahr, nackt und schmerzhaft, so, daß sie auch dort, wo sie sich symbolisch ausdrücken, nahezu naturalistisch sind. Sie sind voll trockenen Hohns und sensibler Sicht eines Menschen, der die Welt so klar erblickt hatte, daß er es nicht ertragen konnte und sterben mußte, wenn er nicht wie andere Zugeständnisse machen und sich in die verschiedenen, auch edleren Irrtümer der Vernunft oder des Unterbewusstseins retten wollte.
Dr. Franz Kafka schrieb das Fragment Der Heizer (tschechisch in Neumanns Červen erschienen), das erste Kapitel eines wunderbaren, noch unveröffentlichten Romans, Das Urteil, den Widerstreit zweier Generationen, Die Verwandlung, das stärkste Buch der modernen deutschen Literatur, Die Strafkolonie und die Skizzen Betrachtung und Landarzt. Der letzte Roman Vor dem Gericht (gemeint ist der „Der Prozess“, Anm. d. Red.) liegt schon jahrelang druckbereit im Manuskript vor. Er ist von der Art jener Bücher, die, zu Ende gelesen, den Eindruck einer so vollkommen inbegriffenen Welt hinterlassen, daß sich jedes weitere Wort erübrigt. Alle seine Bücher schildern das Grauen des geheimnisvollen Unverständnisses, unverschuldeter Schuld unter den Menschen. Er war ein Künstler und Mensch von derart feinfühligem Gewissen, daß er auch dorthin hörte, wo andere, taub, sich in Sicherheit wähnten.
Der Nachruf erschien am 6. Juni 1924 auf Tschechisch in der Tageszeitung „Národní listy“.
„Markus von Liberec“
Geheimes oder Geheimnistuerei?